Freuds "Traumdeutung":Der treibende Eisberg

Träume sind keine Schäume, sagt der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud. Es sind Texte, die gelesen werden können, wenn man nur ihren Ursprung ausmacht. Aber klar doch, es geht natürlich um Sex.

Bernd Graff

Unter Traumdeutung, auch Oneirologie (griech. óνειρoς "Traum") versteht man die Interpretation jener Bildern, die der Mensch im Traum erlebt.

Freuds "Traumdeutung": Konzentration auf die Scham - nicht aufs Nacktsein: Sigmund Freud, hier mit unbedingt phallischer Zigarre.

Konzentration auf die Scham - nicht aufs Nacktsein: Sigmund Freud, hier mit unbedingt phallischer Zigarre.

(Foto: Foto:)

Die haben den Menschen seit je fasziniert - und der schnell wegwischende Satz des Volksmunds: "Träume sind Schäume" verbirgt das tatsächliche Interesse, das die Menschheit an diesen eigenen, seltsam rätselhaften Bildern hat. Denn, so der Verdacht, das sind eben nicht willkürliche Bilder und sinnlose Phantasmen, sondern gehaltvolle Symbole, deren Sinn vielleicht nicht unmittelbar einleuchtet, der aber vorhanden sein muss. (Das verlangen allein schon des Menschen Narzissmus und die Angst, sich selber nicht als Produzenten von absolutem Unsinn begreifen zu wollen). So spielen Traum-Interpretationen in den Religionen und Mythen, aber auch bei der Bewältigung von alltäglichen Situationen, seit je eine große Rolle. Sie wurden, auch das ist plausibel, dann unterschiedlich aufgefasst — entweder gefürchtet als Trugbilder des Bösen, oder aber verehrt als göttliche Botschaften für die Zukunft.

Die älteste, nachweisbare Beschäftigung mit dem Traum ist über 4.000 Jahre alt. Traumdeutung wurde von den Babyloniern und Assyrern geschätzt. Im Hellenismus bildete sich eine regelrechte Deutekunst der Traumkundigen heraus. Die Romantik des frühen 19. Jahrhunderts betonte die Beziehung der Träume zum Märchen und auch schon zum Unbewussten.

Immer schon also grübeln nicht wenige Menschen im Wachzustand über das nach, was sie von ihren Träumen erinnern, um Erkenntnisse über sich selber oder ihre Bestimmung daraus zu gewinnen.

Einer der Epoche machenden Versuche, Licht ins Dunkel der Träume zu bringen, war und ist zweifellos Sigmund Freuds "Traumdeutung", erschienen im Jahr 1900.

Im nächsten Abschnitt: Im Traum ist der Mensch nicht ganz alleine

Der treibende Eisberg

Freud ging davon aus, dass der Traum eigentlich so etwas wie ein Text ist, den man zwar vielleicht kaum lesen kann und dessen tieferen Sinn und Bedeutung man nicht gleich begreift, den ein Mensch aber - und sei es nur für sich selber - erfassen kann. Denn darin, in den Bildern - und vielmehr noch in den Gefühlen, die diese Bilder transportieren, so die Grundannahme, spiegeln sich dessen augenblicklicher Zustand, seine Begierden, Gefühle, Erinnerungen und Erfahrungen wider.

Kein Wunder also, dass Freud die Interpretation des Traumes zum "Königsweg" für das Verständnis unbewusster Prozesse erklärte. Ein Weg, auf dem der Analytiker den Erkennenden/Lesenden allerdings nur helfend begleitet.

In der "Traumdeutung" rückt Freud den Traum daher ins Zentrum seiner psychoanalytischen Theorie neurotischer Erkrankungen. Denn, so die Annahme, im Traum ist jeder Mensch bei sich: Es gehen zwar äußere Eindrücke des Vortags, dazu akute Sinnesreize, Botschaften aus dem Körperinnern und ohnehin bedeutsame Erlebnisse, die sogenannten "Tagesreste", in den Traum ein.

Doch in erster Linie macht der Traum die von äußeren Reizen unabhängigen Trieb- und Affektzustände, die Wünsche und Ängste der träumenden Person deutlich. Es artikuliert sich darin deren akute psychische Situation. Die psychoanalytische Methode der Traumdeutung will auf diese kaum rational durchdringbare Erlebenswelt mit der Technik freier Assoziation eingehen. Man deutet nicht im Sinne von überpersönlicher Moral und Wahrheit , sondern gibt spontanen Einfällen und intuitiven Erkenntnissen Raum, die möglichst unzensiert vom Verstand die Deutung der Trauminhalte gewährleisten sollen.

Im nächsten Abschnitt: Liebe und Triebe

Der treibende Eisberg

Damit fordert Freud für den Deutungsansatz der Analyse dieselbe Freiheit ein, die der Traum sich nimmt. Denn gerade hinter den sogenannten "manifesten Inhalten", also den unmittelbar auf das Wach-Erleben Bezug nehmenden Traum-Inhalten, scheinen jene "latenten Inhalte" durch, die im Wachzustand unterdrückt oder verdrängt werden.

Freud glaubte jedoch, dass der Träumer die Konfrontation mit seinen inneren Ereignissen im Wachzustand meide und zensiere (vor allem die sexuellen Begierden), und eben den Traum benötige, um sich damit auseinander setzen zu können - auch von ihm wenn ein nicht unerheblicher Aufwand betrieben werde, dieses innere Erleben in bizarre und abstruse Bilder und Bildfolgen zu packen.

Folgerichtig nennt Freud diese Anstrengung, nicht explizit werden zu lassen und zu zensieren, was tatsächlich in dem Menschen vorgeht, auch die "Traum-Arbeit". Wobei - wie das dritte Kapitel der "Traumdeutung" klar ausweist, diese Arbeit sich lohne, ist doch der Traum das Mittel, diese Wünsche und Begierden wenigstens zu thematisieren, wenn nicht sogar zu erfüllen.

Um nun die latente Bedeutung des Traums freizulegen, schlug Freud vor, für den Deutungsprozess die Zügel der Vernunft fallen zu lassen, um in freier Assoziation ebenfalls zu jenen Stellen vorzudringen, für die der Traum Bilder findet. Vor allem für die versteckten Wünsche und Bedürfnisse. Und seien es Wünsche, die dem Träumer selbst Angst machen.

Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Freud etwa an "Nackt-Träumen" nicht spannend findet, dass jemand sich selber nackt im Traum sieht. Interessant sind für ihn die Gefühle des Träumers, die solche Bilder begleiten.

"Ein Traum, in dem jemand sich selber nackt sieht, fordert unsere Aufmerksamkeit nur dann, wenn Scham und Peinlichkeit dabei gefühlt werden. Wenn jemand versucht, zu fliehen oder sich zu verstecken oder das seltsame Gefühl damit verbindet, sich nicht von der Stelle rühren zu können. Gerade diese Verbindung ist typisch und hebt den Traum über das individuelle Erleben hinaus."

Im nächsten Abschnitt: C.G. Jung und die Archetypen, Freud der Anti-Descartes

Der treibende Eisberg

An diesem Punkt des Über-Individuellen (nicht nur des Traumes) treffen sich Freud und sein Schüler Carl Gustav Jung - und trennen sich sofort wieder.

Jung, der Begründer der analytischen Psychologie, erkennt wie Freud, dass im Traum Kräfte erkennbar werden, die sich im Individuum, seinem Willen und Einzelerfahrungen keineswegs erschöpfen. Wo Freud in Folge allerdings fast schon pessimistisch davon ausgeht, dass aufgrund der menschlichen Triebgebundenheit eine Verbesserung der sozialen und kulturellen Zustände nur sehr schwer möglich ist, betont Jung das Menschheitserbe, das sich im Überindividuellen zeigt.

Denn Traumbilder sind für Jung Symbole des "Kollektiven Unbewussten", in dem sich Archetypen manifestieren. Darunter versteht er universell vorhandene Urbilder in der Seele aller Menschen, völlig unabhängig von ihrer Geschichte und Kultur. So tauchen auch nach Jung eben nicht völlig bizzare Bilder in den Träumen auf, sondern ererbte Symbole, die alle Menschen gleich assoziieren. Berühmt sind etwa Animus und Anima als eigene Teilaspekte des jeweils anderen Geschlechts.

Befragt man ein Standardwerk wie die Encyclopaedia Brittannica nach Freud, dann taucht der Begründer der Psychoanalyse dort auch im Kontext des Anti-Humanismus auf.

Das verwundert auf Anhieb insofern, als doch die erhellende Kraft aller Analyse fast ganz in die Obhut des frei assoziierenden Ichs gegeben ist, dem der Analytiker gewissermaßen nur assistierend beisitzt. Das Individuum ist die Bedeutung. Sollte man meinen.

Tatsächlich aber glaubt Freud, dass der menschliche Geist genauso von Naturgesetzlichkeiten (den Trieben) gesteuert wird wie das jeder anderen Lebensform auch. Nichts, was eine Person sagt, tut oder denkt, ist zufällig und nichts geschieht aus freiem Willen. Alles kann auf überpersönliche Kräfte zurück geführt werden, die im Menschen wirken. Selbst der freie Wille und die rationale Entscheidung tragen noch dieses Unterfutter. Auch dann, wenn diese Kräfte dem Menschen selber nicht bewusst sind.

Freud ist der Anti-Descartes insofern, als jeder Ansatz, der den Menschen (und seine Geschichte) wie das Cogito an den Beginn der Analyse setzen würde, dem gewaltigen Anteil nicht rational erfassbarer Wirkkräfte nicht gerecht würde. "Der Teil des Ich, der dem menschlichen Verstand als Bewusstsein zugänglich ist,", so die Britannica über Freuds Theorie, "macht nicht mehr aus als die Spitze eines Eisberges. Das darunter liegende, versteckte Andere ist das Unbewusste. Und das schreibt auch dem Bewusstsein vor, wohin der große Eisberg treibt." Doch in jeder Nacht, mit jedem Traum erfahren wir, das sich das Eis bewegt.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: