Freiheit der Kunst in Russland:Schuldig

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Nach der Tat hält der Vater den erschlagenen Sohn in den Armen: „Iwan der Schreckliche und sein Sohn Iwan“ von Ilja Repin. (Foto: Ilja Jefimowitsch Repin)

Ein Mann beschädigt in Moskau Ilja Repins Gemälde der Ermordung des Zarensohnes Iwan. Damit hat Russlands reaktionärer Bildersturm die alten Meister erreicht.

Von Julian Hans

Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis Russlands reaktionärer Bildersturm auch die alten Meister erfasst. In den vergangenen Jahren hat sich der Zorn orthodoxer und nationalistischer Gruppen gegen moderne und zeitgenössische Kunst gerichtet und gegen alles, was jene Kreise als "unrussisch" betrachten. Dass sie dafür vom Staat nicht nur Verständnis erhielten, sondern sogar Unterstützung, hat sie zu neuen Aktionen ermuntert. Seit allerdings am Freitagabend ein angetrunkener Mann in der Staatlichen Tretjakow-Galerie in Moskau mit einer Eisenstange auf Ilja Repins Gemälde "Iwan der Schreckliche und sein Sohn Iwan" einschlug, dürfte den Kulturpolitikern dämmern, dass etwas aus dem Ruder gelaufen ist.

Das Gemälde gehört zu den bekanntesten Werken der russischen Malerei. Repin, der es in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts malte, hat einen festen Platz im Pantheon der nationalen Kultur, und überstand lange Zeit alle politischen Umbrüche bemerkenswert unbeschadet. Großfürsten liebten seine Porträts, Revolutionäre die Sozialkritik und den heroischen Realismus seiner berühmten "Wolgatreidler" oder des unbekannteren Bildes "Die Verhaftung des Propagandisten". Die sowjetische Verehrung Repins als "russischer Rembrandt" oder "russischer Rafael" nahm solche Züge an, dass die Tretjakow-Galerie für ihren berühmtesten Maler heute kaum noch Interesse findet - und dies, obwohl dem Museum mit russischen Künstlern eine Blockbuster-Ausstellung nach der anderen gelingt.

Seit Freitagabend ist die Lage noch düsterer: Wenn Repin Interesse findet, hat dies fatale Folgen. Sein Gemälde "Iwan der Schreckliche und sein Sohn Iwan" zeigt den Zaren, nachdem er - aus Wut? Aus Wahn? - seinen Sohn ermordet hat. Es ist reiner Splatter, eine fast unerträglich detailfreudige Darstellung: die Augen des Tyrannen irre aufgerissen, das Rot des Teppichs grell leuchtend wie eine riesige Blutlache. Am vorderen Bildrand ist ein Elfenbeinstab zu sehen: die Tatwaffe.

Mit einem ganz ähnlichen Instrument ging der Täter auf Repins Gemälde los. Laut Polizeibericht packte der 37-Jährige einen der Pfähle für die Absperrkordel vor dem Gemälde und zerschlug damit erst das Sicherheitsglas und dann die Leinwand. Das Museum schätzt die Kosten für eine Restaurierung auf 500 000 Rubel, umgerechnet etwa 7000 Euro.

Bei einer ersten Befragung durch die Polizei erklärte der mutmaßliche Täter, die Darstellung entspreche "nicht den historischen Fakten". Tatsächlich ist umstritten, ob Iwan der Schreckliche seinen Sohn erschlug, ob der jüngere Iwan an einer Erkältung starb oder, so dritte Version, vergiftet wurde. Wladimir Putin hatte einst in einem Interview eine weitere Variante in die Welt gesetzt: Der Papst habe den Zaren überreden wollen, der römischen Kirche beizutreten. Als dieser ablehnte, habe der Vatikan die Legende vom Sohnesmord verbreitet, um den Zaren und Russland in ein schlechtes Licht zu stellen.

War Iwan der Schreckliche ein starker Herrscher oder eine sadistischer Tyrann?

Verleumdung durch den Westen, um Russland zu schwächen - dieses Motiv dominiert die Politik, spätestens seit Präsident Putin zum Beginn seiner dritten Amtszeit 2012 eine konservativ-patriotische Wende vollzog. Ein Kunstskandal markierte die Zäsur: Die feministischen Punks von Pussy Riot mussten für ihren Tanz in der Christ-Erlöser-Kathedrale drei Jahre ins Straflager. Die angeblich verletzten Gefühle von Personen, die gar nicht anwesend sein müssen, gelten im Zweifel mehr als die Freiheit der Kunst.

Nach diesem Prinzip wurde auch entschieden, als Aktivisten der Organisation "Offiziere Russlands" 2016 in einer Ausstellung des amerikanischen Fotografen Jock Sturges im Zentrum der Brüder Lumière in Moskau Bilder mit Urin bespritzten. Statt die Angreifer zur Verantwortung zu ziehen, wurde die Ausstellung geschlossen. Die Senatorin Elena Misulina, oberste Tugendwächterin des Landes, lieferte dazu die Begründung, Sturges' Bilder enthielten Kinderpornografie.

Repins "Iwan der Schreckliche" wurde nicht zum ersten Mal Opfer einer Attacke. Schon 1913 hatte ein Altgläubiger das Bild mit einem Messer beschädigt. Damals konnte Repin es selbst restaurieren. Als orthodoxe Aktivisten vor fünf Jahren forderten, das Bild aus der Ausstellung zu entfernen, da die Tat historisch nicht belegt sei, lehnte die Leitung der Tretjakow-Galerie ab. Die Rolle des Zaren im 16. Jahrhundert dient oft als Vorwand, wenn eigentlich darüber gestritten wird, ob Gewalt und Willkürherrschaft gerechtfertigt sind, um die Größe und Macht Russlands zu vermehren. Die Befürworter führen an, Iwan IV. habe die Tataren zurückgeschlagen und die Grundlagen für das russische Imperium gelegt. Dem halten Gegner nicht nur seine Grausamkeiten entgegen, sondern auch, dass er die adlige Elite zerstörte und das Land nach seinem Tod ins Chaos stürzte.

Im Weltkrieg gab Stalin bei Sergej Eisenstein eine monumentale Trilogie über Iwan den Schrecklichen in Auftrag. Für den ersten Teil über den Aufstieg des Zaren erhielt der Regisseur den Stalinorden. Der zweite Teil über Iwans Willkürherrschaft war lange verboten. Der dritte wurde nie fertig. Die Iwan-Faszination ist so stark wie lange nicht: 2016 enthüllten in der südrussischen Stadt Orjol Stalinisten und Orthodoxe das erste Denkmal für ihn.

© SZ vom 28.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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