Freihandelsabkommen:Das unsichtbare Chaos

In den Debatten französischer Intellektueller über das TTIP sind die Positionen der Gegner so ähnlich, dass Rechte und Linke kaum noch zu unterscheiden sind. Aber ein breiter Protest ist dennoch nicht in Sicht.

Von Josef Hanimann

"Unsichtbar" ist nicht mehr nur jenes anonyme Komitee, das vor acht Jahren von Frankreich aus in einer aufsehenerregenden Schrift den "Kommenden Aufstand" prophezeit hat und sich nun mit einem neuen Buch, "A nos amis", "An unsere Freunde", zurückmeldet. Im Zeichen der Unsichtbarkeit wird heute auch an höchster Stelle verhandelt zwischen Brüssel und Washington, zum Beispiel über das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP (Transatlanic Trade and Investment Partnership), das in diesem Jahr in die letzte Beratungsrunde gehen soll. Die Aufstände seien seit 2007, dem Erscheinungsjahr ihres ersten Buchs, tatsächlich reichlich gekommen, schreibt das "Unsichtbare Komitee" im Buch "A nos amis", das im April bei Nautilus auch auf Deutsch erscheint: Aufstände rund um die Welt, aber kein Hauch von Revolution, denn die "99 Prozent", die laut Protestslogan von New York bis Frankfurt das gemeinsame "Wir" sein wollten, unterschieden sich gegenüber dem restlichen einen Prozent durch ihre Unorganisiertheit. Überdruss, reine Negativität, absolute Verweigerung seien, so die "Unsichtbaren", die "heute einzige auszumachende politische Kraft".

Manchmal reicht es nicht einmal dazu. Dass die seit Sommer 2013 laufenden Verhandlungen zwischen EU und USA über das TTIP, auch Tafta genannt (Transatlantic Free Trade Agreement), in der Öffentlichkeit so wenig Reaktionen hervorrufen, macht die Gegner des Abkommens ratlos. Eine über die Internetseite "stoptafta.wordpress" mühsam zustande gekommene Unterschriftenpetition ist von Brüssel sang- und klanglos abgeschmettert worden. So geraten im Abseits des Protests auch die Kampffronten durcheinander. Die TTIP-Gegner von ganz links und ganz rechts sind einig, nicht nur im Ziel, dem Abwenden des Freihandelsabkommens, sondern auch in ihrer Argumentation, die sich praktisch Satz für Satz gleicht. Vom französischen Rechtsintellektuellen Alain de Benoist ist unter dem Titel "Le Traité transatlantique et autres menaces" (Das transatlantische Abkommen und andere Bedrohungen) gerade ein Buch erschienen, das sich liest, als wäre es von Attac abgeschrieben. Oder als habe sich Attac bei ihm bedient.

Einziger Streitpunkt: Soll man mitdiskutieren oder verweigern?

Alain de Benoist, in den Siebzigerjahren Begründer der "Nouvelle Droite", Leser von Nietzsche, Ernst Jünger, Armin Mohler und Herausgeber der Zeitschrift Krisis für ein starkes Abendland, ist unfreiwillig gerade wieder in die Schlagzeilen geraten. Der radikal linke Philosoph Michel Onfray hatte erklärt, eine richtige Analyse von Benoist sei besser als eine falsche Analyse von Bernard-Henri Lévy, wofür der Premierminister Valls ihn als Freund eines Rechtsradikalen, Rassisten und Ideenlieferanten des Front National abkanzelte. Benoists Kritik gegen das TTIP könnte tatsächlich auch von Onfray stammen. Er sieht im geplanten Abkommen hauptsächlich zwei Gefahren: die Reduzierung bestehender sozialer, sanitärer, ökologischer, kulturpolitischer Marktregulierungsmechanismen auf ein neoliberales Minimalmaß zum einen, die Einrichtung einer demokratisch nicht legitimierten Schiedsgerichtsinstanz aus Experten und Anwälten zum anderen, die im Konfliktfall einzelne Länder zu Schadenersatzzahlungen an Konzerne verurteilen kann, wie es heute schon manchmal geschieht. Geblendet von der Illusion eines großen Markts mit dem Dollar als Leitwährung verschleudere Europa seine Restidentität als Kultur- und Gesellschaftsmodell, protestiert Benoist.

Das demokratische Defizit der TTIP-Verhandlungen hinter verschlossenen Türen wird mittlerweile auch von liberalen Kreisen wie der Financial Times beklagt. Die Streitfrage zwischen Befürwortern und Gegnern ist indessen die altbekannte, ob man direkt am Verhandlungstisch oder draußen in der Verweigerung mehr Einfluss habe. Sie führt in die von der traditionellen Links-rechts-Unterscheidung verdeckte Alternative zwischen Reform- und Revolutionspolitik. Die "reformistische Hypothese" habe ohne die "kommunistische Hypothese" keine Chance, sagt im Gesprächsband "Que faire?" (Was tun?) über Kommunismus und Kapitalismus der Philosoph Alain Badiou seinem Kollegen Marcel Gauchet, dem prominentesten französischen Theoretiker der Reformdemokratie, ins Gesicht. Denn die Demokratie müsse, so Badiou, unter den Bedingungen des Kapitalismus ständig von einer radikalen Alterität bearbeitet werden, um sich reformieren zu können, was seit 1989 nicht mehr der Fall sei. Und für dieses "ganz Andere" komme bis heute nur ein neu überdachter Kommunismus infrage.

Das ruft nicht nur sozialdemokratische Kapitalismus-Bezwinger, sondern auch philosophische Kapitalismus-Apologeten wie den Lacan-Schüler Alain Juranville auf den Plan. Das Argument, die kapitalistische Verabsolutierung des Geldes habe alle anderen Universalutopien verscheucht, wird dort umgedreht. Der Kapitalismus gehe einher mit einer kontinuierlichen Ausweitung vereinbarter Rechtssysteme zur Abwendung von Gewalt, schrieb Juranville schon vor vier Jahren in seinem Buch "Unbewusstes, Kapitalismus und Ende der Geschichte".

In seinem "Logischen Brevier zum Ende der Geschichte", so der Untertitel seines neuen Monumentalwerks "Les cinq époques de l'histoire", rundet er seine Theorie nun ab und bestimmt den Kapitalismus als letzte Stufe eines Individualisierungsprozesses, der politisch vom antiken Staat über die Kirche, die Wissenschaft als Institution und die Demokratie in ihre Schlussetappe führte: die Kapitalgesellschaft, die das untilgbare Maß an menschlicher Unzulänglichkeit endgültig in eine gerade noch erträgliche Form zu bringen vermocht habe. Wenig wahrscheinlich, dass eine solche Auffassung den Kampf gegen das Freihandelsabkommen beflügeln wird. Sie könnte aber dem vom "Unsichtbaren Komitee" beklagten Chaos zu schärferen Konturen verhelfen.

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