"Freedom Theatre" im Westjordanland in der Krise:Nach dem Mord

Kunst gegen Besatzung: Juliano Mer-Khamis hatte in einem Flüchtlingscamp im Westjordanland ein Theater aufgebaut, 2011 wurde er erschossen. Der Mord an Mer-Khamis brachte weltweite Aufmerksamkeit. Es gab mehr Geld, das neue Projekte und mehr Gastspiele ermöglichte. Doch jetzt steckt die Spielstätte in einer Krise. Vor allem seit israelische Soldaten Mitarbeiter des Theaters festgenommen haben.

Mounia Meiborg

Vor einem Jahr noch ist Mustafa Steti jeden Morgen früh aufgestanden und sofort ins Theater gegangen. Er hat Fotoworkshops gegeben und Filme gedreht, das Theater vibrierte, bis zum späten Abend feilten sie an Kleinigkeiten. Später saßen alle zusammen um einen großen Tisch, haben gegessen und diskutiert. Dann ist Mustafa ins Bett gegangen und konnte es kaum erwarten, am Morgen wieder aufzustehen.

"Freedom Theatre" im Westjordanland in der Krise: Am 4. April 2012, ein Jahr nach der Ermordung von Juliano Mer-Khamis, demonstrierten Palästinenser in Ramallah.

Am 4. April 2012, ein Jahr nach der Ermordung von Juliano Mer-Khamis, demonstrierten Palästinenser in Ramallah.

(Foto: AFP)

Das scheint lange her. Seit Juliano Mer-Khamis vor einem Jahr erschossen wurde, hat sich für Mustafa alles verändert. Mer-Khamis hatte im Westjordanland, in einem Flüchtlingslager in Dschenin, ein Theater aufgebaut: das Freedom Theatre. Kunst gegen Besatzung, mit dieser Agenda wurde das Theater zu einem palästinensischen Vorzeigeprojekt im Westen. Nach außen steht das Theater heute besser da denn je. Der Mord an Mer-Khamis hat weltweite Aufmerksamkeit gebracht: Neue Projekte, mehr Geld, mehr Gastspiele. Aber in Dschenin steckt das Theater in einer Krise.

Es gibt nach wie vor die Schauspielschule, Kurse in kreativem Schreiben, Fotografieren und Filmen. Aber wie es weitergehen soll, ist unklar. Die einen wollen sich aufs Theater konzentrieren, die anderen ein Rundum-Kulturzentrum betreiben. Die einen wollen Stücke machen, für die es Fördergelder gibt, die anderen möchten sich die Stoffe frei aussuchen. Die einen wollen sich aufs Flüchtlingslager beschränken, die anderen auf Welttournee gehen. Jeder will das Erbe des charismatischen Gründers weiterführen. Nur eben jeder auf seine Weise.

Juliano Mer-Khamis, Sohn einer israelischen Mutter und eines palästinensischen Vaters, holte vor sechs Jahren Kinder und Jugendliche aus dem Camp auf die Bühne. Sie sollten ihre Geschichten erzählen: Von der zweiten Intifada, in der viele neben Verwandten auch ihre Häuser verloren, vom Alltag im Camp, überfüllten Zimmern zu Hause und in der Schule.

Im Flüchtlingslager waren viele misstrauisch. Als Mer-Khamis ankündigte, mit Wedekinds Stück "Frühlings Erwachen" Teenager über Sex aufzuklären, bekam er Morddrohungen. Am 4. April 2011 wurde er erschossen. Der Täter wurde nicht gefasst, und so gehen die Spekulationen in zwei Richtungen: Der Täter war danach entweder ein Israeli mit politischem Motiv oder ein Palästinenser mit moralischen Vorbehalten.

Rückkehr in die Heimat der Großväter

Das Flüchtlingslager ist konservativ. Dabei sind 60 Prozent der Einwohner jünger als 25 Jahre. Um ein Uhr mittags ziehen Horden von Grundschulkindern nach Hause - vorbei an Läden mit Hühnern, Schuhen, Eisenbedarf. An einer Ecke steht ein Schaf und blökt. Vor der neuen Moschee, dem größten Gebäude, parkt ein Traktor. Die Männer, die Arbeit haben, helfen auf den Feldern im Umland.

Die Schlaglöcher auf den Straßen sind größer, manche Häuser werden seit Jahren nicht fertig - aber sonst unterscheidet das Flüchtlingslager äußerlich nur wenig vom Rest der Stadt. Die 17 000 Bewohner stammen mehrheitlich aus der Gegend um Haifa, nur 50 Kilometer entfernt, aber unerreichbar durch die Mauer und israelische Checkpoints. Es ist die dritte Generation, die jetzt hier aufwächst und von der Rückkehr in die Heimat der Großväter träumt.

Der neue Probenraum des Theaters liegt nicht im Camp, sondern zehn Minuten entfernt im Zentrum der Stadt. Die Schüler sind gerade erst von einem Workshop an der Berliner Schaubühne zurückgekommen. Jetzt probt Nabil Al-Raee, der künstlerische Leiter, mit ihnen Monologe. Jedesmal, wenn er sich langweilt, wirft er etwas auf die Bühne: einen Stock, einen Schuh, eine Rolle Klopapier. Die Schüler - Jungen zwischen 17 und 20 - ducken sich oder verteidigen sich mit Stühlen. Es ist ein großer, wilder Spaß.

Immer weiter weg vom Ursprung

Nachdem alle dran waren, erklärt Nabil Al-Raee, warum ihm die Monologe zu roh waren. Er trägt Drei-Tage-Bart, Locken und die weichen Schuhe eines Tänzers. Ins Arabische mischt er Wörter wie "style", "reaction" und "improvisation". Konzentriert hören ihm die Schüler zu. Erst seit gestern proben sie für die Aufführung, die schon in fünf Tagen sein soll. Ein Fonds aus Qatar hat kurzfristig Geld für ein Stück in einem Blindenzentrum versprochen.

Begabte Schüler, ein motivierter Lehrer - es sieht so aus, als sei die Schauspielschule ein Erfolg. Aber von den sechs Jungen in der Klasse kommen fünf nicht aus dem Camp, sondern aus umliegenden Dörfern. Vom ursprünglichen Ziel, Kindern aus dem Flüchtlingslager eine Chance zu geben, ist nicht viel übrig geblieben. Die zwei Mädchen, die anfangs in der Klasse waren, dürfen nicht mehr kommen, die Eltern haben Angst. Juliano Mer-Khamis hat, als er noch lebte, jede Familie so oft besucht, bis er sie überzeugt hatte.

Eine solche Figur fehlt jetzt, jemand, der mit seiner Energie alle überrollt und ansteckt. Nabil Al-Raee, der neue künstlerische Leiter, könnte das sein. Aber er geht im Sommer, um sein eigenes Theater zu gründen. Er will professioneller arbeiten, sagt er, etwas Eigenes aufbauen. In den Wochen nach dem Mord stand das Telefon im Theater nie still. Das Schweizer Konsulat rief an und wollte Geld geben, andere Förderer stockten ihr Budget auf. Die finanzielle Krise, in der das Theater steckte, war schnell überwunden. Journalisten kamen und Theaterhäuser aus der Schweiz, Frankreich, und den Vereinigten Staaten luden zu Gastspielen ein. Im Herbst tourte das Theater zwei Monate durch Deutschland.

Die Probleme mit dem Camp aber wurden immer größer. Seit israelische Soldaten Mitarbeiter des Theaters festnahmen, stehen die Theaterleute in dem Ruf, Ärger zu machen. Al-Raee sagt: "Wir kämpfen nicht nur gegen die israelische Besatzung, sondern auch gegen die Engstirningkeit unserer eigenen Leute." Der neue Probenraum in der Stadt soll zum Vorstellungssaal ausgebaut werden. Das Theater rückt immer weiter weg vom Flüchtlingslager, für das es mal gegründet wurde.

Künstler aus dem Ausland können kaum helfen

Das neueste Projekt führt durchs ganze Westjordanland. Heute geht die Reise 80 Kilometer Richtung Süden, nach Bethlehem. In die Aufführung im Kulturzentrum sind Frauen mit Kopftüchern gekommen, alte Männer und Kinder. Auf der Bühne stehen drei Schauspieler vom Freedom Theatre. Sie spielen die Geschichten nach, die die Zuschauer erzählen. Playback Theatre heißt diese Technik aus der Drama-Therapie.

Was er gefühlt habe, als die israelische Armee ihn 1948 aus seinem Haus vertrieben hat? Der alte Mann mit Gebetskette und Kafia sieht aus, als würde er die Frage nicht verstehen. Gestellt hat sie Ben Rivers, ein smarter australischer Regisseur. Der alte Mann beginnt vom Britischen Mandat zu reden. Der Regisseur sieht verzweifelt aus. Nochmal fragt er den alten Mann nach seinen Gefühlen.

Wie Ben Rivers kommen viele Künstler aus dem Ausland, für ein paar Monate oder ein Jahr. Sie bringen neuen Input und Expertise mit - nur können sie kaum helfen, langfristig palästinensische Zuschauer auszubilden. Über die Zukunft des Theaters entscheiden die jungen Schauspieler, Regisseure und Filmemacher aus Dschenin.

Im Freedom Theatre sitzt Mustafa im dunklen Kinosaal und guckt "Reservoir Dogs". Er ist 26, aber wie die meisten hier redet er von vergangenen Zeiten wie ein alter Mann. Vor allem von Juliano Mer-Khamis, den er kannte, seit er zwei Jahre alt ist. "Juliano is fucking fun", sagt er. Er will einen Film über ihn drehen. Angefangen hat er noch nicht.

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