Zeitgeist: Die „Stress Awareness Week“
Ein Salbeibonbon gegen das Kratzen im Hals, ein Stoß Nasenspray gegen die Verschnupfung – und dann: einatmen, ausatmen. Tief in den Bauch. Loslassen, schwer werden, an nichts denken. Alles tun, was man tun kann, um nicht gestresst zu sein. Um nicht gestresst davon zu sein, nicht gestresst sein zu dürfen, schon gar nicht in der sogenannten Stress Awareness Week, ein paar inoffiziellen Tagen im November, an denen man sich bewusst machen soll, wie schädlich Stress ist, für Körper wie Geist.
Natürlich: auf keinen Fall aufs Handy schielen beim Atmen. Handy und Atmen streng voneinander trennen. Am besten Handy und echtes Leben voneinander trennen. Dann doch ein Blick auf das leuchtende Display, man muss ja mal – und sofort: Atemlosigkeit. Ein Sandwich-Turm an Eilnachrichten stapelt sich dort, „Donald Trump gewinnt US-Präsidentschaftswahl“, „In Sachsen brechen CDU, BSW und SPD Sondierungsgespräche ab“, „Ampel am Ende – Scholz will Lindner entlassen“.
Es ist erst Mittwoch, der dritte Tag der Stress Awareness Week, aber es ist Mittwoch, der 6. November 2024, und womöglich wird dieser Tag als einer der stressigsten Tage des Jahres, ach, des halben Jahrzehnts in die Geschichte eingehen. Ironie des Schicksals mag man solch ein Aufeinandertreffen völlig unpassender Ereignisse nennen: größtmöglicher emotionaler Stress, wenn man doch eigentlich „bei sich sein“ sollte. In diesem Fall ist bei genauerer Betrachtung aber gar nichts ironisch, sondern nur folgerichtig: Ausgerechnet Christian Lindner, der mit seiner Forderung von mehr Leistungsbereitschaft (statt eines unbezahlten „Null-Bock-Tages“) als Gegenentwurf eines Selfcare-Coaches angesehen werden kann, hat am Ende dieses 6. Novembers 2024, als längst alle erschöpft in den Seilen hingen, noch einen Nierenhaken obendrauf gegeben, als die Bundesregierung infolge seines Beschusses von innen auseinanderbrach. Probleme sind dornige Chancen, nicht wahr? Wer rastet, rostet!
Ein bisschen Ironie ist aber natürlich doch dabei, denn derjenige, der jetzt endlich mal ein paar Termine weniger im Kalender hat, ist: Christian Lindner – während der Rest der Welt damit beschäftigt ist, die eigene Schnappatmung wieder in den Griff zu bekommen. Sara Peschke
Postpunk-Album: „Kassandras Komplex“

Wieder mal 9. November, und hat sich seit 1989 Wesentliches verändert? Eines ist jedenfalls gleich: Die „Freunde der italienischen Oper“ liefern den Soundtrack zur Lage. Im Jahr des Mauerfalls waren FDIO als ästhetisch anspruchsvollste Postpunk-Band des Ostens die Einzigen, die überhaupt ein Lied über die Mauer hatten, und zufällig sogar auch eins über „1989“ selbst, in dem es allerdings zu heiterem Elektro-Rockabilly eher um den Sommer jenes Jahres ging. Die grandiose Super-8-Filmkunst, die damals zu der Musik auf den Konzerten lief, ist heute noch auf Youtube und Facebook (FESA-Filme!) zu finden und zeugt davon, wie wundervoll theatralisch, gamaschentragend, lustig und auch ein bisschen gay die „Freunde“ in der grauen Wendezeit damals herumoperten. (Der Keyboarder und, jawohl, Fagottist der Band sollte diesen Geist später als „Rummelsnuff“ mit Bodybuilding und Berghain verschneiden.)
Besonders schön ist nun aber der Zusammenschnitt der alten Filme zu dem nagelneuen Titel „Ikarus – She kill the laugh“ (Sic! Das Englisch von FDIO ist generell etwas vernacular): Motorradfahrten durch Fußgängerunterführungen und Altbauwohnungen, Jugendliche in Wendezeiten, und am Ende hängt Sänger Ray van Zeschau mit Engelsflügeln am Bauzaun, weil er 1989 in „Faust 2“ am Theater den Euphorion spielte.
Der gebürtige Bulgare, Stiefsohn des Kulturpalastarchitekten Wolfgang Hänsch, Filmemacher, Fotograf, Cowboy, Reitlehrer und Stellvertreter von sowohl Caruso als auch Elvis auf Erden, ist das letzte verbliebene Originalmitglied und hat FDIO inzwischen als internationale Profimannschaft neu aufgestellt, mit renommierten Fachmusikern aus Leipzig, Westberlin und Buenos Aires.
Eben erschien das Album „Kassandras Komplex“ mit neuen Kompositionen voll melodischer Melodramatik und dunklem Druck, dazu ein paar Klassiker, die diesmal härter und dringlicher eingespielt klingen. Der Buffo am Mikrofon artikuliert authentische Verärgerung über seine Landsleute: „Geht zurück in alte Zeiten, Leute / dorthin, wo ihr nicht zu denken brauchtet …“ Klingt wie ein Zornausbruch zu den letzten Landtagswahlen, beziehungsweise wie Ilko-Sascha Kowalczuks „Freiheitsschock“ – nur mit elektrischen Gitarren und sehr erbost bollerndem Bass. Peter Richter
Klassik: Neuentdeckter Walzer von Chopin

So werden Sensationen gemacht: Vor knapp zwei Wochen berichtete die New York Times, nun ist bereits die Aufnahme auf sämtlichen Streaming-Plattformen abrufbar, eingespielt vom berühmtesten Pianisten der Welt, Lang Lang. Dabei sind es gerade mal 24 Takte, die das Hauslabel des chinesischen Pianisten, die Deutsche Grammophon, am gestrigen Freitag veröffentlicht hat. Aber immerhin von Frédéric Chopin, oder jedenfalls mit ziemlicher Sicherheit.
Ein bislang unbekannter Walzer in a-Moll, aufgetaucht im Nachlass eines Handschriftensammlers in der New Yorker Morgan Library, auf einem Papierchen von rund zehn mal dreizehn Zentimetern. Papier und Tinte stammen aus der Zeit zwischen 1830 und 1835, bestätigten Experten, die Handschrift wohl von Chopin, von dem bislang achtzehn, allesamt deutlich umfangreichere Walzer bekannt sind. Eines der Albumblätter möglicherweise, die der polnisch-französische Komponist gelegentlich an Verehrer(innen) verschenkte. Nur der Komponistenname wurde von fremder Hand hinzugefügt, was die Echtheitsdebatte noch eine Weile am Laufen halten wird.
Der Hype im Netz ist dennoch schon jetzt gigantisch. Lang Langs Einspielung, aufgenommen im Zuge der Präsentation durch die New York Times, kursierte bereits Tage vor der offiziellen Veröffentlichung auf Youtube; die Deutsche Grammophon hat sie immerhin noch mal nachproduziert und besser abgemischt. Sogar diverse Hobbypianisten versuchen sich im Internet bereits am Nachspielen des – eine Wiederholung schon mitgerechnet – etwa achtzig Sekunden langen Stücks.
Schließlich ist es damit kürzer und pianistisch übersichtlicher als selbst Chopins „Minutenwalzer“. Und ja, meint auch das Ohr des Musikkritikers: Der elegante Tonfall, die subtilen harmonischen Ausweichungen, der Duktus melancholischer Vergeblichkeit, der sich nach einer stürmischen Eröffnung einstellt – das alles klingt tatsächlich nach echtem Chopin. Jedenfalls echter, als künstliche Intelligenz seinen Stil bis dato zu imitieren vermag. Womöglich erklärt und rechtfertigt das in Zeiten von Deepfakes tatsächlich einen Hype: 24 Takte als Flaschenpost aus dem Jenseits, ein kleines Blatt Papier, über das die Feder des Meisters geglitten ist. Michael Stallknecht