Frauen und Männer: Neueste Ermittlungen im Krisengebiet:Ich habe nicht abgetrieben

Im Zweifel für das Kind: Früher mobilisierte der Paragraf 218 Hunderttausende, heute ist ein Abbruch im besten Fall reine Privatsache.

STEFFEN KRAFT

Feminismus war gestern, Patriarchat vorgestern. Heute begegnen sich Männer und Frauen auf Augenhöhe. Oder etwa nicht? Eine Artikelreihe erkundet das aktuelle Krisengebiet. Dies Beitrag untersucht, was die Liberalisierung der Abtreibungspraxis für die Frauenbewegung bedeutet.

Frauen und Männer: Neueste Ermittlungen im Krisengebiet: Kampf gegen die Rolle der deutschen Frau als Gebärmaschine.

Kampf gegen die Rolle der deutschen Frau als Gebärmaschine.

(Foto: Foto: Photodisc)

An der Wiege des Streits stand ein Bluff. Als Romy Schneider, Senta Berger und Alice Schwarzer zusammen mit 371 anderen Frauen im Stern bekannten "Wir haben abgetrieben!", war das bei vielen eine Lüge.

Nori Möding, eine der Frauen auf dem Stern-Titel im Jahr 1971, sagt heute: "Die meisten von uns hatten gar keinen Schwangerschaftsabbruch hinter sich."

Alice Schwarzer bestätigt, dass sie nicht abgetrieben hatte.

"Aber das spielte keine Rolle. Wir hätten es getan, wenn wir ungewollt schwanger gewesen wären."

Das Thema Abtreibung einte in den siebziger Jahren die zuvor zersplitterte Frauenbewegung.

Hunderte Frauen bekannten sich auf Massendemonstrationen zu einem Abbruch - ob es der Wahrheit entsprach oder nicht.

Obwohl den Demonstrantinnen eine Klage wegen Kindstötung drohte, wuchs die Bewegung so schnell, dass Vertreter der katholischen Kirche die Protestzüge bald als "monströsesten Totentanz der Geschichte" bezeichneten.

Brisanz erhielt das Thema aber nicht nur durch die Frage, ob eine Frau bei einer Abtreibung einen Mord begeht oder nicht. Abtreibung wurde zum identitätsstiftenden Thema der Frauenbewegung, weil das Ringen um die Entscheidungsmacht über den weiblichen Bauch nicht nur die Frauen betraf: Es war ein Kampf gegen die Rolle der deutschen Frau als Gebärmaschine, wie sie seit dem Deutschen Reich und vor allem im Nationalsozialismus propagiert worden war.

Heute hätte Alice Schwarzer wohl Probleme, eine ähnliche Aktion auf die Beine zu stellen. Nicht nur, weil der Kampf um den Bauch längst entschieden ist. Inzwischen erregen sich nur noch beinharte Abtreibungsgegner wie der Kölner Kardinal Meisner über das Thema.

In den siebziger Jahren war der kalkulierte Tabubruch ein Politikum, inzwischen aber ist die Abtreibung längst wieder privatisiert. Zwar diskutieren die Deutschen angesichts sinkender Geburtenziffern aufgeregt, ob sie demnächst wohl ausgestorben sind und suchen nach Rezepten gegen den "Gebärstreik". Aber um Abtreibung geht es dabei nicht.

Ich habe nicht abgetrieben

Das ist nur vernünftig: Zwar werden heute weniger Frauen schwanger, doch die Bereitschaft, ein bereits gezeugtes Kind zu behalten, steigt.

Nicht die gezeugten Kinder sind heute ein Problem, sondern die ungezeugten. Die Zeiten, als zumindest das politische Bekenntnis zum Schwangerschaftsabbruch für fortschrittliche Frauen ein Muss war, sind vorbei.

Heute wollen viele junge Frauen selbst ein ungeplantes Kind austragen.

Eine von ihnen ist die Berlinerin Eike Braunsdorf. Als die hellblauen Streifen auf dem Schwangerschaftstest erschienen, fragte sich die 26 Jahre alte Fotografin kurz, ob sie nicht alles zurückdrehen sollte.

Den Vater des Kindes kannte sie erst seit wenigen Wochen. Es war eine romantische Nacht gewesen - und damals war keinem von beiden klar, wie lange die Beziehung halten würde.

"Ein Baby - kann ich das überhaupt?"

Eike Braunsdorf verdrängte die Frage, sagte ihrer Ärztin, sie solle das Geschlecht für sich behalten und begann, sich Namen auszudenken. Im April wird Lola oder Lasse auf die Welt kommen. Lola oder Lasse wird ein Baby sein, das ungeplant, aber doch gewünscht ist.

Glaubt man einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, sind Kinder wie Lola oder Lasse in Zukunft häufiger zu erwarten. Junge Frauen, so die Studie, sind heute eher bereit, eine ungeplante Schwangerschaft auszutragen, als noch zu Beginn der Neunziger.

War die Zahl der legalen Abtreibungen nach der Liberalisierung des Paragrafen 218 1996 nach oben geschnellt, ging sie in den folgenden Jahren wieder zurück. Zwar stieg die Zahl 2004 leicht um 1,3 Prozent an, hatte allerdings im Jahr 2003 das niedrigste Niveau seit der Neuregelung erreicht.

Entgegen Befürchtungen von Abtreibungsgegnern hat die Liberalisierung keinen "Massenmord an ungeborenen Kindern" (Meisner) ausgelöst.

Die gesetzliche Möglichkeit, legal einen Fötus zu entfernen, scheint das Leben paradoxerweise zu schützen. In den alten Bundesländern geben mehr als drei Viertel aller Frauen an, dass sie ein ungeplantes Kind austragen würden. 1992 hatten das bloß 64 von 100 Frauen gesagt.

In den neuen Bundesländern sagten zu Beginn der Neunziger etwa 56 Prozent der Frauen, dass sie das Kind abtreiben würden. Inzwischen sprechen sich dort 56 Prozent gegen einen Abbruch aus.

Ein sicheres Indiz dafür, wie sich die Frauen im Falle eines Falles tatsächlich verhalten, ist dies aber nicht, sagt die Bevölkerungswissenschaftlerin Juliane Roloff.

Dennoch: "Solche Sprünge von mehr als zehn Prozent sind bei derart kurzen Zeiträumen äußerst selten."

Die Unterschiede zwischen Ost und West sind eine Spätfolge der jeweiligen Abtreibungspraxis: Anders als im Westen war Abtreibung im Osten bis zur zwölften Schwangerschaftswoche erlaubt.

Selbst nach der Wende praktizierten die Frauenärzte nach zwei unterschiedlichen Abtreibungsregelungen. Während im Osten zunächst weiterhin nach der alten DDR-Regelung abgetrieben werden durfte, galt im Westen die Indikationslösung. Abbrüche waren nur nach einer Vergewaltigung, bei der Gefährdung der Gesundheit der Mutter oder aus sozialen Gründen erlaubt.

Die heute einheitlich geltende Beratungslösung trat erst im Januar 1996 in Kraft. Ostdeutsche Frauen, so Juliane Roloff, akzeptierten einen Schwangerschaftsabbruch aber auch heute noch eher als "normalen" Vorgang als Westdeutsche.

Warum Eike Braunsdorf ihr Kind auf jeden Fall behalten wollte, kann sie sofort sagen: "Ich wüsste nicht, wie ich nach einer Abtreibung noch ein Gebet sprechen sollte."

Die 26-Jährige ist keine Kirchgängerin, sie beschreibt sich als "kirchenferne Protestantin". Doch die Pro Familia-Beraterin Eva Zattler beobachtet gerade bei wenig religiös gebundenen Frauen den Trend, einer Schwangerschaft spirituelle Bedeutung zuzumessen: "Die Bereitschaft, die Anwesenheit eines ungeplanten Kindes mit Gottes Willen oder dem Schicksal zu erklären, ist gewachsen."

Zudem scheine seit dem Zusammenbruch der New Economy selbst areligiösen Frauen eine rein materialistische Sicht suspekt geworden zu sein. So hat sich die Abtreibungsfrage auf eine private Lifestyle-Entscheidung reduziert. "Die Frauen heute nehmen als selbstverständlich hin, was die Frauengenerationen vor ihnen erkämpft haben", sagt Eva Zattler.

Für die Töchter der neuen Freiheit ist der latente gesellschaftliche Bekenntnisdruck für oder gegen einen Abbruch weggefallen. Die Last hat sich damit freilich nur verlagert. Für die Folgen der Entscheidung, seien es psychische oder materielle, kommt die Gesellschaft nicht auf. Mit dem Abflauen der einst heftig ausgefochtenen Debatte ist die Entschiedenheit der Schwangeren gewachsen.

Im Jahr 1992 wusste fast jede fünfte Frau nicht, was sie im Falle einer ungeplanten Schwangerschaft tun würde. Im Jahr 2000 hingegen gaben das nur noch sieben Prozent der Frauen an.

Die Frauenbewegung hat die Liberalisierung der Abtreibungspraxis als Sieg gefeiert. Allerdings hat sie bis heute kein Thema gefunden, das ihre Anhängerinnen in ähnlicher Weise mobilisiert und einigt. Die Entideologisierung des Themas hat die Fronten verwischt, die für eine öffentliche Auseinandersetzung notwendig sind. Damals entzündete sich der Streit an der Festlegung der Frauen auf Kinder, Küche und Kirche, heute sind sich bei den "Frauenthemen" im Prinzip alle einig.

Dass sich Kinder und Karriere besser vereinbaren lassen sollten, können mittlerweile selbst konservative Politiker im Bierzelt fordern. Inzwischen dreht sich die Diskussion darum, wie dieser Anspruch umzusetzen ist. Das ist schwierig genug, aber es bringt niemanden mehr auf die Straße.

Insofern spiegelt die Debatte über die Abtreibung - von einer politisch-ideologischen zu einer privaten Diskussion - auch das Dilemma der heutigen Frauenbewegung wider. Wer Kind und Beruf unter einen Hut bringen will, muss das - allen Politikerbeteuerungen zum Trotz - im post-ideologischen Verständnis meist allein im privaten Umfeld durchfechten.

Ob sich Kinder und Karriere zusammenbringen lassen, hängt dabei vor allem von einem Faktor ab, der für die meisten Frauen auch bei der Entscheidung über einen Abbruch eine bedeutende Rolle spielt: vom Mann.

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