Süddeutsche Zeitung

Frauen auf der Berlinale:Mach ihr niemals Vorschriften

Starke Frauen in Extremsituationen sollten das Thema auf der diesjährigen Berlinale sein. Was ist aus der vollmundigen Ankündigung geworden?

Von Ruth Schneeberger, Berlin

Hakie trägt eine Hose mit Nadelstreifen, grauen Pulli, graue Haare. Der Gang ist fest, die Bewegungen sind die eines alten Mannes. Dazu wird geraucht, über den Hof geschlurft und der Zaun repariert. Was ältere Männer eben so tun, wenn sie alleine leben. Wären da nicht die runde Nase, der weiche Mund und die friedliebenden Augen, man würde Hakie für einen ganzen Kerl halten.

Doch die 70-jährige albanische Hauptdarstellerin aus der Berlinale-Doku "Hakie - ein Leben als Mann" ist kein Mann. Sie lebt nur wie einer. Was an der Prophezeiung liegt, die ihrer Mutter zur Geburt mit auf den Weg gegeben wurde. Ein weiser Mann habe zu ihr gesagt: "Sie wird dir Tochter und Sohn zugleich sein. Mach ihr niemals Vorschriften, ihr ganzes Leben lang nicht. Sie soll nur nach ihrem Verstand leben." Hakies Mutter und der Rest der Familie hielten sich daran - sie wuchs wie ein Junge auf. Und ist es bis heute geblieben.

Frauen werden schwach gemacht

Der bemerkenswerte Film, der auf der Berlinale außerhalb des Wettbewerbs in der "Perspektive deutsches Kino" zu sehen ist, zeigt nicht nur ein Leben außerhalb der Norm des albanischen Alltags: eine Frau, die unverheiratet geblieben ist und äußerlich ihr Geschlecht gewechselt zu haben scheint, was ihr die Freiheit ermöglicht, nach ihren eigenen Vorstellungen zu leben.

Der Film zeigt außerdem, wie stark Rollenzuschreibungen durch Gesellschaft und Erziehung aufoktroyiert werden - und wie diese jahrtausendealten Regeln durchbrochen werden können: Mach ihr keine Vorschriften. Lass sie ihren eigenen Weg finden. Das ist vielleicht tatsächlich der große Unterschied in der Erziehung in weiten Teilen der Welt, dass ein starkes Regelwerk eher den Mädchen mit auf den Lebensweg gegeben wird. Auch um sie zu schützen. Aber auch dadurch wird ein vermeintlich schwaches Geschlecht überhaupt erst definiert.

Nach der Sex-Berlinale nun die Frauen-Berlinale

Diese Berlinale sollte eine weibliche Berlinale sein, hat Festivaldirektor Dieter Kosslick zu Beginn ausgerufen: "Starke Frauen in extremen Situationen" würden gezeigt. Nach der Sex-Berlinale im vergangenen Jahr nun also die Frauen-Berlinale.

Mit der spanischen Regisseurin Isabel Coixet und dem Film "Niemand will die Nacht" eröffnete eine Frau den Wettbewerb, Werner Herzog machte mit Nicole Kidman in "Queen of the Desert" erstmals eine Frau zum Hauptdarsteller seines Films und der heißeste Anwärter auf den Goldenen Bären, "Ixcanul", stammt aus Guatemala und handelt von der mentalen Stärke der dortigen Frauen unter wahrlich diskriminierenden Bedingungen.

Also alles gut im Berlinale-Land? Schafft das größte Publikumsfilmfest der Welt den schwierigen Spagat zwischen anteilsmäßig viel zu wenigen Filmemacherinnen und dennoch anspruchsvollen und lebensnahen weiblichen Themen im Film? Ist das politischste unter den Filmfestivals auch gendermäßig im 21. Jahrhundert angekommen? Hat es den Frauen und Männern etwas Neues über ihre Rollen zu sagen?

Auf den ersten Blick: eher nicht. Den Auftakt machte mit Juliette Binoche in "Niemand will die Nacht" eine Story über eine reiche US-Amerikanerin zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die ihrem Forscher-Mann in die Arktis hinterher reist. Dort angekommen, muss sie erkennen, dass ihr Göttergatte sein Herz an einem Eskimomädchen wärmt. Nun sind es schon zwei Frauen, die ihm hinterher schmachten - und zwar gemeinsam. Emanzipation sieht anders aus.

Gut, könnte man sagen, das war nun ein Nostalgiefilm, für damalige Verhältnisse war es ja bemerkenswert, dass die Frau überhaupt ohne Erlaubnis ihres Mannes eine so gefährliche Reise tut. Doch dann folgt eben "Queen of Desert", und auch das ist pure Nostalgie: Nicole Kidman schlägt sich als "weiblicher Lawrence von Arabien" eben nicht vorwiegend mit politischen Themen, sondern mit Herzschmerz herum.

Gibt es Frauen in Extremsituationen nur in der Vergangenheit?

Okay, aber dann sind doch wenigstens die anderen Filme, die nicht so nostalgisch sind, von politischer Relevanz? Leider ist aber auch "Tagebuch einer Kammerzofe" mit Léa Seydoux ein Nostalgiefilm, dem die ansonsten zauberhafte Hauptdarstellerin außer einem prägnant rebellischen Gesichtsausdruck wenig entgegenzusetzen hat. Gibt es denn Frauen in Extremsituationen in den Vorstellungen deutscher und internationaler Regisseure nur in der Vergangenheitsform? Haben heutige Frauenleben nicht genügend Extremsituationen zu bieten? Oder sind Frauen heute nicht mehr stark - oder müssen nicht mehr stark sein?

Gottseidank gibt es außerhalb des Wettbewerbs ein paar Perlen. Hakie natürlich, obwohl auch sie bald aus der Zeit zu fallen scheint. Aber auch Margarethe von Trotta liefert mit "Die abhandene Welt" ein interessantes Portrait zweier Frauen, die erst in der zweiten Lebenshälfte erfahren, dass sie dieselbe Mutter haben. Katja Riemann und Barbara Sukowa lösen den Konflikt auf eine sehr elegante Weise.

"50 Shades of Grey" - ein Mädchenfilm

Dass "50 Shades of Grey" nicht zu den Frauenfilmen gehören würde, war klar. Beziehungsweise: In gewisser Hinsicht ist auch dies ein Frauenfilm, aber ebenfalls ein gestriger: Weil er das Bild vom gefühligen Mädchen zementiert, das davon träumt, einem starken Mann zu begegnen, der ihr die Welt zu Füßen legt - auch wenn sie groß und schrecklich gefährlich ist. Sonnenuntergangs-Twilight-Fanfiction eben, mit ein bisschen Aua.

Aber da wäre auch noch"Woman of Gold" mit der großartigen Helen Mirren, die zusammen mit Ryan Reynolds auf die Mission geschickt wird, Gustav Klimts berühmte "Frau in Gold" als Nazi-Beutekunst zu enttarnen. Auch dies eine wahre Geschichte, immerhin nicht aus dem vorigen Jahrhundert. Und sie zeigt wahrlich eine starke Frau in einer sehr extremen Situation, wie sie sich durch Verdrängen, Vergessen, staatliche Gier und die Eitelkeiten des Kunstgewerbes bis zum Obersten Gerichtshof der USA durchkämpft - und gewinnt.

Manchmal spielen die Dramen direkt vor der Haustür

Die Berlinale will ein politisches Filmfestival sein, und das ist gut so. Doch fragwürdige Politik spielt sich nicht immer nur in fernen Ländern ab, wo Regisseure oder unterdrückte Künstler an der Ein- oder Ausreise gehindert werden. Manchmal spielen sich die Dramen direkt vor der eigenen Haustüre ab, oder sogar dahinter. Ein paar mehr davon zu zeigen, täte auch der Berlinale gut. Gerade in Bezug auf das zu recht neuentdeckte Thema Frauen.

Einen Anfang macht die Organisation "pro Quote Regie", die in einem Zelt am Potsdamer Platz darauf aufmerksam macht, wie die Berlinale zahlenmäßig aufgestellt ist in Sachen Frauen: Von den 445 eingereichten Filmen stammen 115 von Frauen. Von den 23 Wettbewerbsfilmen sind nur drei aus Frauenhand. Parität sieht anders aus, finden 280 Regisseurinnen und fordern mehr Unterstützung für Filmemacherinnen. Schweden hat die Frauenquote für den Film übrigens schon umgesetzt: Seit 2003 müssen schwedische Filmfördermittel zu gleichen Teilen an Frauen und Männer gehen. Seitdem haben sich die dort vergebenen Filmpreise für Männer halbiert.

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