"Frau im Dunkeln - The Lost Daughter" auf Netflix:Sommer der Verzweiflung

"Frau im Dunkeln - The Lost Daughter" auf Netflix: Olivia Colman spielt Leda Caruso - und auf ihrem Gesicht lässt sich die ganze Kunstfertigkeit Elena Ferrantes ablesen.

Olivia Colman spielt Leda Caruso - und auf ihrem Gesicht lässt sich die ganze Kunstfertigkeit Elena Ferrantes ablesen.

(Foto: Netflix/AP)

Die Bestsellerautorin Elena Ferrante hat der Schauspielerin Maggie Gyllenhaal einen ihrer komplexen Romane anvertraut. Die macht aus "Frau im Dunkeln" ein subtiles und genaues Regiedebüt.

Von Annett Scheffel

Ein paar Minuten lang glaubt man an einen harmlosen Sommerfilm. Gleißend liegt das Licht über der Badebucht. Dahinter ein Pinienwald in sattem Grün. Leda lässt sich auf dem Rücken im Meer treiben. Zu Beginn der Saison hat sie den Strand und die Wellen für sich allein. Sie hat ein Lächeln auf dem Gesicht; erst ist es zaghaft und kaum zu erkennen, als hätte sich nur ihr Kinn leicht verschoben; dann formt es sich zu etwas Selbstsicherem.

Es könnte alles perfekt sein, aber das ist es natürlich nicht. Denn schon bald beginnt es unter der Oberfläche unheilvoll zu glimmen. Irgendwas ist faul an diesem so sinnlich feuchtschwülen Urlaubsort. Wie von einer bösen Vorahnung ist das hübsch drapierte Obst in einer Schale von unten von Schimmel befallen. Und nachts liegt neben Leda plötzlich eine riesige, beunruhigend laute Zikade auf dem Kopfkissen.

Olivia Colman spielt Leda Caruso, eine geschiedene Frau Ende vierzig, Mutter zweier erwachsener Töchter und Professorin für italienische Literatur, die sich auf einer kleinen griechischen Insel in eine Ferienwohnung eingemietet hat. Zwar hat sie sich Arbeit mit in den Urlaub gebracht, erholen will sie sich dennoch. Munter flirtet sie mit dem gut aussehenden Studenten Will (Paul Mescal) der sich mit dem Job an der Strandbar Geld dazuverdient, genauso wie mit dem älteren Lyle (Ed Harris), dem Hauswart.

Das Urlaubsidyll endet abrupt mit der Ankunft einer griechisch-amerikanischen Großfamilie aus Queens, die eine Villa an der Küste bezieht. Eine laute und vulgäre Truppe aus Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen, vor denen man sich - wie Will zu verstehen gibt - lieber fernhalten sollte. Leda fällt besonders die attraktive Nina (Dakota Johnson) ins Auge, die mit ihrer kleinen Tochter am Strand spielt. Leda erkennt das ab und zu aufblitzende Unwohlsein der jungen Frau in ihrer Mutterrolle wieder. Sie beginnt, Nina zu beobachten, was ihre eigenen schmerzhaften Erinnerungen an das Muttersein freilegt: ein komplexes Gemisch aus Liebe, Scham und dem Gefühl, im gesellschaftlichen Normengefüge verloren zu gehen.

"Frau im Dunkeln" ist das Regiedebüt von Schauspielerin Maggie Gyllenhaal. Ihr in Venedig mit einem Filmpreis ausgezeichnetes Drehbuch ist eine Adaption von Elena Ferrantes gleichnamigem Roman aus dem Jahr 2006 (im italienischen Original, "La figlia oscura", ist Leda Italienerin, Englischprofessorin in Florenz und macht Urlaub an der kalabrischen Küste). Die mit der Romanreihe "Meine geniale Freundin" berühmt gewordene Schriftstellerin hatte Gyllenhaal die Filmrechte nur unter der Bedingung gegeben, dass sie selbst die Regie übernimmt.

Ferrante schreibt über Beziehungen, die seltsam unklar bleiben

Kein ganz leichtes Unterfangen: Ferrantes Schreiben ist eine Kunst der Zwischentöne, der unausgesprochenen Andeutungen und seltsam unlesbaren Beziehungen. Zu Beginn ihres Romans gibt es einen Satz, der ihr literarisches Suchen gut auf dem Punkt bringt: "Die Dinge, die wir selbst nicht verstehen, sind am schwierigsten zu erklären." Aus diesem Material hat Gyllenhaal ein elegantes, feinfühliges Drama aus und über weibliche Perspektiven gemacht. Ihr Film springt zwischen zwei Zeitebenen hin und her (Jessie Buckley spielt in Rückblenden die junge Leda) und verdichtet sich inmitten der hypnotisierenden, zirpenden Inselnatur nach und nach zum Psychogramm einer Frau, die an den ihr zugedachten Rollen verzweifelt.

Ferrante und Gyllenhaal passen im Grunde gut zusammen: Beiden geht es in ihrer Arbeit um einen weiblichen Blick. Die Männer bleiben in diesem Film Randfiguren, die die Handlung als Flirt oder latente Bedrohung vorantreiben. Im Zentrum steht immer Leda. Mit Hélène Louvart ("Niemals selten manchmal immer") hat Gyllenhaal eine Kamerafrau gefunden, die intensive Bilder dafür findet und immer sehr nah dran ist an Olivia Colman, die das Gewicht der Geschichte mit ihrer brillanten Darstellung trägt. Es ist ihr Gesicht, auf dem der Zuschauer die ganze Kunstfertigkeit von Ferrantes Schreiben ablesen kann: die Ambivalenzen der Hauptfigur, ihre Anspannung und innere Zerrüttung.

Leda ist eine Antiheldin, eine unbequeme und undurchsichtige Figur, schwer zu greifen in ihren wechselhaften Stimmungen und Impulsen. Mal ist sie kühl und beherrscht, dann wütend und unbeholfen, fürsorglich in einem Moment und geradezu hexenhaft gehässig im nächsten. Während einer Kinovorführung legt sie sich lautstark mit einer Gruppe einheimischer Teenager an. Oder sie weist einen Flirtversuch von Lyle in einer Kneipe harsch ab, nur um ihm einen Augenblick später selbst einen tollpatschigen Anmachspruch ins Ohr zu flüstern.

So selbstsicher Leda auftritt, so wenig scheint sie zu wissen, was sie will. Manchmal scheint sie selbst noch ein Kind zu sein. Als Ninas Tochter am Strand verschwindet, hilft sie bei der Suche und findet sie schließlich. Sie bringt die Kleine zurück, behält aber aus einem rätselhaften Affekt heraus deren Lieblingspuppe. Um die Puppe - ein zentrales Motiv in den Romanen von Elena Ferrante - entwickelt sich ein ganz eigenes kleines Drama, in dem sich Ledas ambivalente Erfahrung von Mutterschaft spiegelt. Spannend anzusehen ist das vor allem, weil Gyllenhaal uns so schonungslos auf ihre Frauenfigur blicken lässt wie Ferrante in ihren Büchern.

The Lost Daughter, USA 2021 - Regie und Buch: Maggie Gyllenhaal, basierend auf "La figlia oscura" von Elena Ferrante. Kamera: Hélène Louvart. Schnitt: Affonso Gonçalves. Mit: Olivia Colman, Jessie Buckley, Dakota Johnson, Ed Harris, Paul Mescal, Peter Sarsgaard. Netflix, 121 Minuten. Im Kino. Streamingstart: 31.12. 2021

Zur SZ-Startseite

Neu in Kino & Streaming
:Welche Filme sich lohnen und welche nicht

Autofahren bringt schmerzhafte Wahrheiten ans Licht, ein Leonardo da Vinci wird verkauft, und in der "Matrix" heißt es wieder: Blau oder Rot? Die Starts der Woche in Kürze.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: