Süddeutsche Zeitung

Französische Literatur:Kalkulierter Kitsch

David Foenkinos' Roman "Charlotte" über die jüdische Malerin Charlotte Salomon, die in Auschwitz ermordet wurde, will ein Epitaph auf ein Holocaust-Opfer sein: Doch er verrät das künstlerische Erbe der Toten an den Schmock.

Von Volker Breidecker

Charlotte Salomon aus Berlin-Charlottenburg, von Beruf Zeichnerin, 26 Jahre alt und im fünften Monat schwanger, verhaftet am 12. September 1943 in Villefranche-sur-Mer (Provence), wurde am 7. Oktober nach Auschwitz deportiert, wo sie vermutlich unmittelbar nach der Ankunft ermordet wurde. Hinterlassen hat sie ein beispielloses künstlerisches Werk von so bestechender Originalität, menschlicher Reife und formaler Komplexität, dass es zahlreiche Künstler anderer Sparten zu selbständigen Interpretationen auf Bühne, Leinwand und Papier inspiriert hat, zuletzt bei den Salzburger Festspielen 2014 zur von Luc Bondy aufgeführten Oper des Komponisten Marc-André Dalbavie und der das Libretto besorgenden Schriftstellerin Barbara Honigmann.

Und wenn je ein modernes Gesamtkunstwerk sämtliche Gattungsgrenzen der Malerei zu Literatur und Musik, zu Theater, Tanz und Film in Bild und Schrift souverän überschritten hat - als Herausforderung für den Museumsbetrieb und für die akademische Kunstgeschichte, die sich dem noch kaum zu stellen wagte -, dann sind es jene rund achthundert mit Gouache bemalten und beschrifteten Blätter, die Charlotte Salomon im letzten Jahr ihres Lebens schuf, um sie in numerischer Folge zum geschlossenen Konvolut unter dem Titel "Leben? Oder Theater? Ein Singespiel" zu bündeln und so der Nachwelt zu hinterlassen.

Wiederentdeckt in der Nachkriegszeit, ist dieses Werk seit einem halben Jahrhundert publiziert und durchaus präsent: Verwahrt im Amsterdamer Jüdischen Museum war es in zahllosen Einzel- und Wanderausstellungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte rund um den Globus zu sehen. Ergänzt um eine Tonspur mit Liedern und Musikstücken, die von der Künstlerin selbst ausgewählt waren, steht es längst vollständig auch im Netz (www.jhm.nl/collectie/thema's/charlotte-salomon).

Die komplexen Rezeptionsvorgaben, die das Werk der Charlotte Salomon selbst transportiert, sind nur dadurch zu unterlaufen, dass man ihm kraft Unterbietung Gewalt antut. Dies gelingt dem französischen Bestsellerautor David Foenkinos, der auch in Deutschland durch leichtfüßige Unterhaltungsromane bekannt geworden ist. Seine Romanfiguren sind meist wie besessen von ihren Neigungen und Neurosen, so wie Hector, der von manischer Sammelleidenschaft heimgesuchte Held des Romans "Das erotische Potential meiner Frau" (2015). Als Hector seine Brigitte einmal beim Fensterputzen beobachtet, versetzt ihn dies in solche Erregung, dass er die Leichtbekleidete von nun an heimlich bei jenem Tun filmt und mit den Videos eine Sammlung anlegt.

Mit dem Ausruf "Charlotte, mon obsession" meldet sich Foenkinos in seinem Roman über das Leben der Charlotte Salomon jetzt selbst zu Wort, um der Titelfigur wie ein Paparazzo nachzustellen. Schamlos ist dies aus gleich mehreren Gründen: Erstens tut der Autor dabei so, als wäre Charlotte Salomon seine persönliche Entdeckung, ein Mädchen, das sich auf seinen Vornamen reduzieren und an die Hand eines ihm zur Sprache verhelfenden auktorialen Erzählers nehmen ließe. Zweitens hat sich Foenkinos offenbar fleißig der über seine Heldin längst reichlich vorhandenen internationalen Literatur bedient, tut dabei aber so, als sei die auch durch Erinnerungen von Zeitzeugen sowie in Dokumentarfilmen vollständig rekonstruierte Biografie das Ergebnis langwieriger eigener Recherchen.

Mit ungehemmter Zudringlichkeit verfolgt der Autor seine Heldin bis ins Vernichtungslager

Und drittens hat er ein Werk der Autofiktion zu Kitsch verrührt, welcher vermeintlich authentische Gefühle und Sinnesregungen wiederzugeben vorgibt, wohingegen die Künstlerin selbst sich noch artistisch quasi verdoppelt hatte, insofern sie gegenüber ihrer Lebensgeschichte und dem mit fiktiven Namen versehenen biografischen Personal die entrückte Position einer anonymen Erzählerin einnahm.

Sämtliche Kunstmittel einer reflektierten Distanznahme - von Ironie und Selbstironie über Lakonie, Sarkasmus, Scherz und Satire bis hin zur Karikatur, Kolportage und Persiflage - werden bei Foenkinos wieder zurückgenommen. Damit fällt der Roman weit hinter den im Werk der Künstlerin selbst erheischten Grad der Reflexion zurück, um das Kunstwerk bloß noch nachzuerzählen, als hätte er es mit einem bebilderten Tagebuch aus Charlottes Kindheit und Jugend zu tun. Von dem originellem Werk der Künstlerin bleibt bei Foenkinos nur süßlicher und sentimentaler Schmock zurück, der allenfalls noch jene Leser erreichen kann, die von dieser Malerin noch nie etwas gehört oder gesehen haben, oder aber solche, die sich durch pseudoromantische Kitschmotive von schönen, gebildeten, leidenschaftlichen, aber unglücklichen Jüdinnen - je unglücklicher, desto besser - kitzeln lassen.

Schamlos ist aber auch, dass Foenkinos, beginnend mit dem Anfangssatz des Romans ("An einem Grabstein lernt Charlotte ihren Namen lesen"), seiner Heldin als ererbtes Schicksal eine Art Todesverfallenheit zuschreibt. Dem Vernichtungstod in Auschwitz wird damit eine Schicksalshaftigkeit unterstellt, die ihre Vorgeschichte in der familiären Häufung weiblicher Suizide gefunden haben soll: "Die Erblast war zu schwer. Das Übel zehrte den Stammbaum mitsamt den Wurzeln auf." Das ist unerhört und geradezu widerlich.

Doch auch damit nicht genug, weitet Foenkinos die literarische Verfolgung seiner Heldin von Berlins "Charlottenviertel", alias Charlottenburg, mit dem Savignyplatz im Zentrum - die Welt kennt dieses Berlin aus Bob Fosses "Cabaret" mit Liza Minelli - über die Provence hinaus tatsächlich bis nach Auschwitz aus und folgt dem nackten Opfer mit voyeuristischem Grausen noch bis unter die Dusche der Gaskammer.

Mit einem eitlen "Bonjour, Madame, ich bin Schriftsteller", sucht Fionkinos sich in Berlin und in der Provence Zugang zu einstigen Schauplätzen des Lebens seiner Angebeteten zu verschaffen. Scheinheilig beklagt er sich dann auch noch darüber, dass ihm, der in fremden Behausungen nichts zu suchen hat, die Tür vor der zudringlichen Nase zugeschlagen wird. Und als Tiefpunkte der Unterformung - im augenfälligen Kontrast zur ästhetischen Überformung, die das durch einen souveränen Akt künstlerischer Selbstfindung, Selbstvergewisserung und Selbstbehauptung in große Kunst verwandelte Leben in Charlotte Salomons Werk gefunden hat - sind da noch Foenkinos stereotyp gereihte Hauptsätze: Von der ersten bis zur letzten Seite füllen sie jeweils eine Zeile, um das gespreizte Fake eines vermeintlichen Prosagedichts zu erzeugen, die vage Anmutung eines Gebets, ja eines wie aus einem Guss gebildeten Epitaphs.

Seltsam, dass dieser Roman in Frankreich, wo er 2014 erschien, sowohl mit dem angesehenen Prix Renaudot wie mit dem Prix Goncourt des Lycéens ausgezeichnet wurde, der vom Erziehungsministerium mitvergeben wird und Bücher prämiert, durch deren Lektüre die Schüler an herausragenden Beispielen mit der französischen Gegenwartsliteratur vertraut gemacht werden sollen.

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Quelle:
SZ vom 13.01.2016
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