Süddeutsche Zeitung

Französische Literatur:Ich und das Mittagessen

Unaufdringlich, souverän, eigenständig: Annie Ernaux erzählt von den Jahren einer Frau und schafft es wieder, ihr eigenes Leben in den Mittelpunkt des Textes zu stellen, ohne sich selbst allzu wichtig zu nehmen.

Von Meike Fessmann

Von einer Sekunde auf die andere sind alle Bilder gelöscht. Das individuelle Gedächtnis verschwindet, während das kollektive fortbesteht. Es hat wohl auch mit der unglaublichen Vorstellung des eigenen Todes zu tun, dass Annie Ernaux eine so herausragende Schriftstellerin geworden ist. Ihre Bücher haben von Umfang und Struktur her nichts Episches. Sie sind auf eine leicht zu lesende Weise experimentell. Und doch ist in ihnen immer auch der ruhige Fluss der Zeit zu spüren. Es gibt eine Art Grundvertrauen in ihrem Werk, ein Vertrauen darauf, dass das Schreiben eine wirkungsvolle Tätigkeit ist, die eine Spur im kollektiven Gedächtnis hinterlässt.

Ohne sich selbst allzu wichtig zu nehmen, im Gegenteil, lange gefährdete die einfache Herkunft ihr Selbstbewusstsein, stellt die 1940 in der Normandie geborene Schriftstellerin das eigene Leben und die Menschen ihres Umfelds ins Zentrum: den Vater in "La place", die Eltern in "La honte", die Ehe in "La femme gelée", das sexuelle Verlangen in "Passion simple" und "Se perdre". Mit Mitte siebzig veröffentlichte sie im vergangenen Jahr ein Buch, das sich noch einmal dem sexuellen Erwachen widmet. Die deutsche Übersetzung von "Mémoire de fille" ist für nächstes Jahr bei Suhrkamp angekündigt.

"Die Jahre", 2008 als "Les années" im französischen Original erschienen und von Sonja Finck souverän übersetzt, ist die Quintessenz ihres Werks. Das ungewöhnliche Resonanzverhältnis zwischen Ich und Welt nimmt augenblicklich dafür ein. Es hat auch mit einer formalen Entscheidung zu tun. Annie Ernaux evoziert Fotos, um von derjenigen zu erzählen, die sie über all die Jahre gewesen ist. Aber sie spricht nicht aus der Ich-Perspektive. Wenn sie in der ersten Person erzählt, dann nur im Plural. Sonst spricht sie in der dritten Person über sich, als "sie" oder "man". Das ist eine ästhetische Entscheidung von großer Wirkung. Denn sie räumt den äußeren Einflüssen eine bedeutende Rolle ein. Die eigene Person wird zu einer Art Gefäß: geformt von Sitten und Gebräuchen, von Ideen, Redewendungen, Gesten, Meinungen, von lauter Dingen also, die sich dem Willen und der Kontrolle entziehen. Das gibt dieser Prosa eine ungewöhnliche Nonchalance.

So entstehen Momentaufnahmen aus sechzig Jahren französischer Geschichte, erzählt aus der Perspektive einer erkennbar weiblichen Biografie. Viele Dinge werden auf neue Weise greifbar: die Gepflogenheiten eines sonntäglichen Familienessens, dessen Kargheit sich im Lauf der Jahre verliert, ohne jemals üppig zu werden; die Selbstverständlichkeit, mit der Kinder und Jugendliche am Tisch sitzen bleiben, wenn die Erwachsenen vom Hungerwinter 1942 erzählen, von der deutschen Besatzung, den Amis und Briten (eine Selbstverständlichkeit, die erst als solche zu erkennen ist, wenn es sie nicht mehr gibt); die geradezu minimalistische Art der Gesprächsführung, bei der schon die Namen und Verwandtschaftsbeziehungen genügen, dazu eine Charaktereigenschaft und ein, zwei Anekdoten.

Es ist nicht lange her, dass der Radius eines Menschen kaum mehr als 50 Kilometer umfasste

Schleichend vollziehen sich Veränderungen. Mit dem Tod der Großelterngeneration verschwindet auch der Horizont von Biografien, die durch zwei Weltkriege geprägt waren. Man bewegte sich zu Fuß oder mit dem Fahrrad fort, in einem Radius von fünfzig Kilometern. "Stille war unser Hintergrundgeräusch". Obwohl Paris nur hundertvierzig Kilometer von Yvetot entfernt ist, kannte Annie Duchesne als Jugendliche die Hauptstadt nicht.

Der Indochinakrieg kam als Gesprächsstoff nicht vor, der Algerienkrieg selten. Annie Ernaux wurde Lehrerin, bekam zwei Söhne und zog mit ihrer Familie in einen Vorort von Paris. Brav absolvierte sie das ganze Programm: Hausbau, Hypothekenkredit, Doppelbelastung. Nebenbei träumte sie davon, Schriftstellerin zu werden. Dann kam der Mai 1968 und wirbelte alles durcheinander. Ihre Ehe zerbrach, mit jungen Geliebten genoss sie das wiedererwachte Begehren. Auch wenn die Namen der Präsidenten auftauchen, der Vietnamkrieg, Tschernobyl, die Kriege im Nahen Osten, die Balkankriege, der Mauerfall und 9/11, liegt das historische Augenmerk auf Alltagsgeschichte und kulturellem Wandel: Wie kurz etwa die Zeitspanne war, in der die Frauen mit der Legalisierung von Pille und Abtreibung ebenso bedenkenlos Sex haben konnten wie die Männer, bis die Verbreitung von Aids ihre Freiheit wieder einschränkte.

Überhaupt ist der weibliche Zyklus bei Annie Ernaux eine Art zweite Zeitrechnung, die dem Leben einen Rhythmus aus Sorge, Erwartung und Erleichterung vorgibt. Als Vorbilder erkennt man nicht nur Proust und Virginia Woolf, deren letzter, zu Lebzeiten publizierter Roman ebenfalls "Die Jahre" heißt, sondern auch Michel Foucault, Pierre Bourdieu und Roland Barthes. Doch Annie Ernaux wandelt sich deren Methoden an, ohne ihre Sprache mit Theorie zu belasten. Ihr Werk ist auf beglückende Weise eigenständig. Es schildert, wie sich ein Leben in den Fluss der Zeit einfügt. Die Zeit ist die eigentliche Heldin dieser Betrachtungen. Dass wir ihr mehr verdanken als der eigenen Leistung, ist die unzeitgemäße Pointe dieses brillanten Buches.

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Quelle:
SZ vom 10.10.2017
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