Französische Literatur:Der Schatten der Schwester

Verwirrspiel der Erinnerung: Monica Sabolos neuer Roman "Summer" erzählt von einer dysfunktionalen Familie.

Von Peter Henning

In Monica Sabolos neuem Roman "Summer" herrscht vom ersten Moment an die Atmosphäre einer diffusen, nur schwer fassbaren Bedrohung. Ihr Schauplatz ist der Genfer See, ihre Hauptquelle die Vergangenheit. Der Erzähler, er heißt Benjamin Wassner und geht auf die Vierzig zu, erinnert sich an das plötzliche Verschwinden seiner Schwester Summer vor 24 Jahren. "In meinen Träumen sehe ich immer den See. Schon lange erinnere ich mich nur an Fetzen, eine Explosion von weißem Licht, und dann: nichts mehr. ... Manchmal sehe ich Summer reglos im Wasser. Mit weit aufgerissenen Augen. Ich strecke die Hand aus und berühre die Oberfläche, aber ich kriege nicht Summer, sondern ein Geflecht aus Algen zu fassen. Aber ich weiß, sie ist dort im See."

Monica Sabolo, 1971 in Mailand geboren und in Genf aufgewachsen, zählt seit Erscheinen ihres 2014 auch auf Deutsch erschienenen Romandebüts "Das hat alles nichts mit mir zu tun" zu den interessantesten Erzählerinnen französischer Sprache. Doch wo etwa Virginie Despentes die sie bedrängende Wirklichkeit mit drastischen Bildern und Formulierungen für sich fassbar zu machen versucht, wirkt die Außenwelt bei der ehemaligen Zeitschriftenredakteurin Sabolo meist wie hinter einer regennassen Scheibe inszeniert.

Fische in meinen Träumen

In ihrem zweiten Roman "Die goldenen Tage" von 2016, den sie im Crans-Montana des Jahres 1960 ansiedelte, hat sie das Spiel von drei jungen Frauen um Liebe und Selbstbehauptung als verwirrendes Schattentheater inszeniert. Auch in ihrem neuen Roman arbeitet sie an der Verwischung der Grenze zwischen Wahrnehmungen und Einbildungen.

Gleich zu Beginn lässt sie ihren Erzähler bekennen: "Seit dreieinhalb Monaten gehe ich zweimal die Woche zu Doktor Traub, einem Psychologen, demzufolge die Fische in meinen Träumen Spiegelungen meiner Seele sind. Ausdruck meiner Erstickungsangst." So bleibt lange unklar, ob es sich bei den nachfolgenden Schilderungen einer Familie, die durch das Verschwinden Summers aus ihrer Balance gestürzt wurde, um Rekapitulationen eines um Aufklärung bemühten Berichterstatters handelt oder um Benjamins eigene, von seinen Ängsten und Visionen verzerrte Wahrnehmungen.

Sogwirkung eines Krimis

Der Roman führt in die Kulissen einer jener dysfunktionalen Familien, die zum fest angestellten Personal der internationalen Gegenwartsliteratur zählen. Hier handelt es sich um eine Handvoll ineinander verstrickter Personen, von denen jede ihre ganz eigene Sicht auf Summers Verschwinden hat - und gegen alle Einwände anderer Figuren an ihrer Version festzuhalten sucht. Als der Erzähler, der damals vierzehn war, schließlich zu begreifen beginnt, was vor 24 Jahren wirklich geschah, entwickelt der Roman endgültig die Sogwirkung eines Krimis.

Man muss sich die ganz zu Beginn gegebenen Einblicke in die Innenwelt des Erzählers - "Schon lange erinnere ich mich nur an Fetzen" - in Erinnerung rufen, wenn man die letzten Kapitel des Romans liest. Denn mehr und mehr erweisen sich alle Informationen, die wir glauben bekommen zu haben, als dunkle Reflexe einer männlichen Fantasie. Wir sehen dieser Fantasie einen Roman lang dabei zu, wie sie eigene Bilder an die Stelle einer großen Leerstelle setzt. Am Ende, nachdem das Rätsel um Summers Verschwinden gelöst ist, haben wir eine geschickt konstruierte Scharade gelesen, die auf keiner Seite langweilt.

Monica Sabolo: Summer. Roman. Aus dem Französischen von Christian Kolb. Insel Verlag, Berlin 2018. 254 Seiten, 22 Euro.

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