Süddeutsche Zeitung

Französische Literatur:C'est la vie

In Deutschland ist die französische Autorin Emmanuelle Bayamack-Tam noch zu entdecken. Dazu gibt ihr neuer Roman "Ich komme" Gelegenheit - er handelt von drei Frauen, dem Alltagsrassismus und der Liebe zur Biokost.

Von Joseph Hanimann

Den drei Heldinnen dieses Romans würde man unterschiedlich gern persönlich begegnen. Am lustigsten wäre es wohl mit der zwanzigjährigen Charonne, einer so spitzzüngigen wie fettleibigen Nervensäge, Adoptivkind mit unklarer afrikanischer Herkunft, die uns ihre Kindheit und Jugend bei der Adoptionsfamilie im geräumigen Marseiller Wohnhaus erzählt. Unterhaltsam ist auch die blonde Nelly, Charonnes Ersatzgroßmutter, eine ehemalige Filmschönheit, die ihren verflogenen Reizen nachtrauert und sich tapfer mit immer neuen Altersleiden herumschlägt - "zum Glück liefert Gott uns ab einem gewissen Alter die Alterssichtigkeit und dann, wenn das nicht mehr reicht, auch noch Alzheimer hinterher, so wird uns das Ausmaß des Schadens nicht ganz bewusst". Weniger vergnüglich wäre eine Bekanntschaft mit Gladys, Nellys Tochter aus erster Ehe.

Sie ist süchtig nach Biokost und Orientreisen, lebt mit ihrem Halbbruder Régis nach einer gemeinsam verbrachten Kindheit im unterkühlten Glück einer kinderlosen Ehe und entschied sich schließlich zur Adoption. Die Kleine hätte sie dann aber gern gleich wieder ans Fürsorgeamt zurückgegeben wie ein defektes Produkt: zu dick, zu ausgefallen, zu nervend.

Ein Familienroman also, mag man denken. Das hieße aber, Emmanuelle Bayamack-Tam schlecht zu kennen. Die 1966 in Marseille geborene Autorin von bisher zehn Romanen und Erzählungen arbeitet als Lehrerin an einem Pariser Vorstadtgymnasium. Sie vermint in ihren Büchern die scheinbar überschaubaren Situationen mit Hintergründen, Anspielungen auf literarische Vorlagen und Ereignissen aus der Tagesaktualität. Oft zerreißen dabei die üblichen Daseinskoordinaten von Geschlecht oder Herkunft.

Es entsteht in diesem Roman ein grandioses Panorama uneingelöster Lebensentwürfe

War der zum Transvestiten gewordene kleine Daniel im Grund nicht schon immer ein Mädchen - fragte man sich bei ihrem Roman "Die Prinzessin von." (2010). Ist die in ihrer zerrütteten Familie aufwachsende Kim des Romans "Wenn mit meiner Unschuld nicht alles vor die Hunde ging" (2013) nicht im Grund die einzige erwachsene Person? Ebenso ungewiss ist in diesem neuen Buch "Ich komme", ob die junge Charonne wirklich die Tochter einer von einem Belgier vergewaltigten Ruanderin ist, wie sie behauptet. Man tastet durch Lebensgeschichten, die an der Oberfläche der Dialoge realistisch sprudeln, in den erzählenden Monologen der Heldinnen aus der Erinnerung aber vieldeutig rauschen. Jede der drei Frauen erzählt im Roman in je einem Kapitel ihre Lebensgeschichte.

Die kleine Charonne war bei den Gängen durch die Stammkneipen der Marseiller Front-National-Kundschaft, auf denen sie den Großvater Charlie begleitete, mit den schmierigsten rassistischen Phrasen konfrontiert worden, hatte aber mit ihren sechs Jahren noch keine klare Vorstellung von einem anständigen Gespräch. Seltsam erschien ihr hingegen damals schon die Bereitschaft des sonst stilvollen Bürgers, bei den schlüpfrigsten Späßen über "schwarze Mösen" mitzulachen. Später erst erkennt sie dahinter den Gram des Alten, dereinst seinen ganzen Besitz an sie, den ins Haus geschneiten dunkelhäutigen Wechselbalg, vererben zu müssen. Nelly nimmt sich des Mädchens etwas bereitwilliger an. Charlie sei schon vertrottelt gewesen, bevor er zum Vertrotteln Zeit hatte, sagt sie von ihrem Mann. Und doch liebt sie gerade diesen der Liebe unfähigen Egoisten sehr viel mehr als ihren ersten Gatten, den sie leidenschaftlich liebenden und verwöhnenden Verführer.

Was auf den ersten Blick wie ein Reigen aneinander vorbeiwirbelnder Gefühle aussieht wie im Theater von Marivaux, mündet immer wieder in die Baudelaire'sche Einsicht, dass die Welt aus lauter Missverständnissen besteht. Selbst die in ihrem Vollkommenheitswunsch innerlich vertrocknete Gladys bekommt von da aus eine eigene Größe, in der ihre Lebensenttäuschung manchmal sarkastisch aufblitzt. Charonne habe mit zehn Jahren ihre erste Monatsblutung bekommen, wundert sich die Adoptionsmutter, in einem Alter, in dem sie selbst noch ein kleines Mädchen gewesen sei. Fazit: Die Kindheit wird abgeschafft, "mit neun sind heute alle dick und pubertieren, wir fabrizieren kleine Monster mit vollen Bäuchen und leeren Augen".

Zu den Eigenheiten von Emmanuelle Bayamack-Tams Romanen gehört, dass die Figuren von einem Buch zum anderen wieder auftauchen. Nicht jedoch wie in einem Zyklus als sich weiterentwickelnde Charaktere, sondern eher wie musikalische Variationen eines Grundcharakters. Gladys kannten wir schon vom vorhergehenden Roman als eine unbegabte Mutter. Statt eine Tochter aus gutem Haus war sie dort aber eine Stripperin mit dem Schönheitsfehler einer Hasenscharte. Die Autorin lässt die Figuren mit ihren Körper- oder Sozialschäden manchmal jahrelang liegen, greift sie dann plötzlich wieder auf und spinnt sie weiter nach neuen Mustern. Mögen diese Muster in diesem Buch mitunter auch etwas zu breit geraten und sich in den Erzählschlaufen der drei Frauenschicksale verwickeln, ergibt sich doch ein grandioses Panorama uneingelöster Lebensentwürfe.

Charonne ist noch zu jung für ein eigenes Schicksal, Nelly stürzt aus einer zu großen Vergangenheit ab, Gladys sättigt die Leere ihrer Gegenwart mit Idealvorstellungen. Alle drei Spuren schnürt Emmanuelle Bayamack-Tam in einem geheimnisvollen Zimmer des Marseiller Hauses kunstvoll zu einem Familiengeheimnis. Sie gehört zu den originellsten Schriftstellerinnen ihrer Generation. Dem engagierten Secession-Verlag verdanken wir hiermit in vorzüglicher Übersetzung schon das dritte Buch von ihr.

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Quelle:
SZ vom 28.11.2017
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