Französische Literatur:Blickumkehr

Veronique Olmi

Theatermonolog zwischen Rolle und Leben - Véronique Olmi.

(Foto: John Foley/Opale)

Die Schaupielerin Nelly erzählt einer Punkerin ihre Geschichte. Véronique Olmis Roman "Der Mann in der fünften Reihe" ist bühnenreif.

Von Jörg Magenau

Es ist ein nächtlicher Monolog: Die Schaupielerin Nelly sitzt auf einer Bank im Pariser Gare de L'Est und erzählt ihre Geschichte einer jungen Punkerin mit grünen Haaren, die neben ihr liegt. Wahrscheinlich schläft sie und hört nicht zu, so dass stellvertretend wir Leser in die Rolle der Zuhörer schlüpfen. Véronique Olmi ist in Frankreich vor allem als Dramatikerin bekannt. Zwischendurch schreibt sie schmale Romane über weibliches Begehren, "Der Mann in der Fünften Reihe" ist bereits ihr zehnter. Allerdings liest er sich eher wie ein Theatermonolog. Der Übergang zwischen den Genres ist bei Olmi fließend. Übergänge, Spiegelungen und die Auflösung der Differenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Rolle und Leben sind auch Gegenstand dieses kleinen Buches.

Nelly ist ein Bühnenstar. Sie ist es gewohnt aufzutreten, angeschaut und begehrt zu werden. Ihr ganzes Leben richtet sich nach dem Rhythmus der Aufführungen, ihre Tage laufen auf den Moment zu, in dem sie am Abend die Bühne betritt. Umständlich schildert sie ihren keineswegs bemerkenswerten Alltag: ein Anruf der Mutter, die Weltkatastrophen aus dem Radio, eine CD mit Chopin, während sie unter der Dusche steht, Erinnerungen an die Kindheit am Mittelmeer und einen schweigsamen Vater, ein Gang durchs winterkalte Paris mit der Repetition der Theaterrolle. Da spielt sie eine Mutter, die "den Schmerz in sich trägt wie andere das Leben oder die Vergebung". Véronique Olmi neigt zu derlei Sätzen, bei denen man nie weiß, ob sie noch schön und überraschend oder schon kitschig sind.

An diesem Abend aber bricht alles zusammen. Denn in der fünften Reihe - sie sieht es schon während sie auf die Bühne geht - sitzt der Mann, den sie immer noch liebt, obwohl die beiden sich vor einem halben Jahr getrennt haben. Auf einmal kehren sich die Verhältnisse um: Jetzt ist nicht mehr sie die Angeschaute, sondern sie sieht ihn, und es ist, als ob in diesem Moment der Blickumkehr alles Leben aus ihr entweicht. Sie schafft es zwar noch, ihren Text zu sprechen und bringt ihren Auftritt zu Ende, fühlt sich aber nur noch wie ein leerlaufender Mechanismus.

Vielleicht ist sie aber gerade deshalb an diesem Abend besonders gut. Der Schmerz, den sie darstellt, ist ihr eigener. Gespielt wird nicht ganz zufällig Pirandellos "Sechs Personen suchen einen Autor" - ein Stück, in dem es eben um die Differenz zwischen realen Personen und Theaterfiguren geht. Doch "Der Mann in der fünften Reihe" ist mehr als nur eine Betrachtung zur Ästhetik des Theaters. Es ist auch ein Monolog über Narzissmus und den Wahnsinn der Liebe, der sich aus einem einzigen Blick konstruiert. So beschwört Nelly in ihrer nächtlichen Erinnerung noch einmal die erste Begegnung, den ersten Blick. Sie beschreibt genau seine Augen und ihr Gefühl, "ihm begegnet" zu sein, "bevor ich ihn sah". Die Liebe als Wahn, als Rausch, als Projektion ist auch ein Übergang in eine andere Wirklichkeit, ähnlich dem Gang auf die Theaterbühne.

Am Ende bricht Nelly auf, um den Immer-noch-Geliebten noch einmal zu besuchen und sich endgültig von ihm zu verabschieden. Ob es ihr gelingt, aus ihrer Rolle als Liebende herauszutreten, bleibt offen. Die schlafende Punkerin und eine Kassiererin im Theater, die es versäumte, Nelly eine wichtige Botschaft zu überbringen, sind Türwächter des Übergangs, Figuren wie in der griechischen Mythologie. Solche Überhöhungen werden aber durch die unspektakuläre Genauigkeit, mit der Olmi ihre Figur zu Wort kommen lässt, ausbalanciert. So hören wir Nellys Monolog gespannt zu - eine Frau auf der Bühne, die von ihren Auftritten und Übergängen zwischen den Welten erzählt.

Véronique Olmi: Der Mann in der fünften Reihe. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Verlag Antje Kunstmann, München 2017. 110 Seiten, 18 Euro. E-Book Euro.

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