Süddeutsche Zeitung

Französische Gegenwartsliteratur:Generation Panikattacke

In "Überleben" stellt sich Frederika Amalia Finkelstein die Frage, wie man zuversichtlich sein soll, wenn man ständig an den Terror denkt.

Von Wolfgang Hottner

Die Protagonistin und Erzählerin in Frederika Amalia Finkelsteins Roman "Überleben" hat die Terroranschläge am 13. November 2015 in Paris nicht überlebt. Nicht dass sie tot wäre, sie war nicht einmal dabei. Sie hat das Grauen nicht unmittelbar erlebt, sie ist daher auch streng genommen keine Überlebende.

Dennoch bestimmt das Gefühl einer permanenten Bedrohung seither ihre Existenz: "Ich habe nie an eine bessere Welt geglaubt, aber die Gewalt, mit der wir heute leben - in Frankreich, in Europa -, diese Gewalt bringt mich um."

Durch die Angst, die Paranoia und den Alarmismus, den der Terrorismus auslöst, entgleitet Ava ihr Leben. Ohne Job und dem nervlichen Zusammenbruch nahe, irrt sie durch Paris. In der Metro und an öffentlichen Orten beobachtet sie ihre Umwelt mit größter Genauigkeit, getrieben von der Befürchtung vor einem möglichen, weiteren Anschlag. Sie versucht es zu kaschieren, doch sobald Ava in den Wagen der Metro steigt, überwältigt sie "eine flüchtige, kategorische Angst, die Angst einer in einem Rucksack oder einer Weste versteckten Bombe oder eines Sprengstoffgürtels."

Ava hängt Fotografien der Opfer in ihrer Wohnung auf, und während sie im Park joggt, wiederholt sie auswendig gelernte Wikipedia-Listen von Massakern und Anschlägen. Sie ist fasziniert von den Videos und Bildern der Getöteten und besucht immer wieder Orte des Grauens wie das Bataclan, wo 89 Menschen ums Leben kamen. In Anbetracht der Toten mischt sich die Scham am Leben zu sein mit der Einsicht, überlebt zu haben.

Elias Canetti hat in seinem Aufsatz "Macht und Überleben" die Ambivalenz dieses Moments als Form der Selbstermächtigung beschrieben: "Der Schrecken über den Toten, wie er vor einem daliegt, wird abgelöst von der Genugtuung: man ist nicht dieser Tote. Man hätte es sein können. Aber es ist der andere, der liegt." Das Schreckliche dieser Einsicht, das im Bewusstsein oder der Erinnerung an die eigene Sterblichkeit liegt, wirft Ava aus der Bahn.

Mit den Themen des Überlebens und der Erinnerung an die Toten schließt Finkelstein an ihren enorm erfolgreichen Debütroman "L'Oubli" aus den Jahr 2014 an. Darin stellt die junge Protagonistin Alma rund sechzig Jahre nach der Schoah die Frage nach der Möglichkeit einer jüdischen Identität, die nicht je schon vom Recht oder Imperativ der Erinnerung an Auschwitz durchdrungen ist.

Finkelsteins Roman wurde in Frankreich kontrovers diskutiert, zu seinen Fürsprechern gehörte unter anderem der Literaturnobelpreisträger Jean-Marie Le Clézio. Auch in ihrem zweiten Roman verhandelt Finkelstein die ganz großen Themen und wiederholt ihren Anspruch, dass Literatur die Leser erschüttern soll und im besten Fall eine existenzielle Erfahrung ermöglicht.

In der französischen Presse wurde die 27-jährige Autorin seit ihrem Debüt zur "Stimme ihrer Generation" stilisiert, insbesondere in Ava erkannte man die Verkörperung überforderter, verängstigter und paralysierter Millennials, die eine beträchtliche Zeit ihres Erwachsenwerdens im Ausnahmezustand verbracht haben. Vordergründig porträtiert Finkelstein in "Überleben" also eine wahnhafte Form der Trauerarbeit und die Obsessionen und Ängste, die der Terror hervorgebracht hat. Interessant ist der Text aber nicht wegen seiner eher stereotypen Protagonistin, sondern wegen des Sprachzustands, der den ganzen Text durchzieht: die permanente Totenklage, mit der das Unwiederbringliche, Abwesende und Abgeschiedene am Leben gehalten wird. Erst indem Ava durch und mit den Toten lebt, kann sie Momente intensiven Erlebens herstellen, die ihr andernfalls, in der Eintönigkeit des französischen Alltags, versagt bleiben. Zugleich aber verhindert diese Redeweise, die klagende Beschwörung, jeglichen Bezug zur gegenwärtigen Welt. In Gedanken ist sie ständig bei den Toten. Selbst als sich ihre beste Freundin an sie wendet, gelingt es Ava nicht zu reagieren und aus der beschwörerischen, repetitiven Monotonie ihres Sprechens herauszutreten. Die Negativität macht ein ungestörtes Verhältnis zur Gegenwart unmöglich: "Ich glaube, dass ich mich niemals von den Toten trennen kann. Sie werden da sein. Sie werden mir auflauern. Sie werden mich bedrohen. Das ist das Mühselige an unsichtbaren Wesen: Je mehr man sie fürchtet, umso weniger verschwinden sie." Dieser permanenten bodenlosen Angst, die sie auf Schritt und Tritt begleitet, versucht Ava durch ununterbrochene Selbstoptimierung zuvorzukommen: "Ungefähr alle fünf Minuten dachte ich an meinen Lebenslauf. Besser gesagt dachte ich: Ich muss ihn perfektionieren und verschönern", heißt es da: "Es ist nicht hinnehmbar, dass ich in meinem Alter (gerade mal ein Vierteljahrhundert) solche Schwierigkeiten habe, einen Job zu finden, und wenn es nur ein befristeter ist. Ich müsste regelmäßig Sport treiben und mein Englisch verbessern." An die präventive Paranoia knüpft sich auch der Wunsch, ihre Mitmenschen zu über-leben. Im Kampf um Anerkennung versteht sie sich als Einzelne.

Es dauert bis fast zum Ende des Romans, bis dieser paranoide Solipsismus aufgebrochen wird und andere Figuren, wie ein liebeskranker Taxifahrer, auftauchen. Erst jetzt eröffnet sich für Ava die Möglichkeit, jenseits eines obsessiven Sicherheitsbedürfnisses einen Wunsch zu artikulieren: "Da sein. Seinen Platz einnehmen. Ausharren". Erst jetzt ist wieder die Hoffnung zu spüren, eine Welt zu schaffen, "die denkt, eine Welt, die gibt, eine Welt, die pulsiert, eine lebende Welt." Eine Welt, in der sich eine eigene Geschichte, vielleicht ein neues Leben erzählen lässt. Damit dies gelingen kann, braucht es eine conversio, eine radikale Umkehr, die Möglichkeit, das Vergangene endlich hinter sich zu lassen. Mit der Möglichkeit einer solchen Umkehr endet der Roman und Ava verstummt. Das Ende der Klage bildet den Anfang des Erzählens.

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Quelle:
SZ vom 11.09.2018
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