Französische Dichtung :Apfelbäume auf den Pfaden

Odile Porträt

Odile Caradec wurde am 15. Februar 1925 in Brest geboren.

(Foto: Odile Verlag)

"In jedem Gemüse ist ein Tropfen Licht": Der Dichterin Odile Caradec zum 95. Geburtstag.

Von NICO BLEUTGE

In ihrem Langgedicht "alphabet" denkt Inger Christensen einmal darüber nach, dass plötzlich alles zu Ende sein könnte. Zum Beispiel während man in seine Küche geht und gerade noch spüren kann, wie schön die Kartoffeln nach Erde riechen, "und gerade noch / den deckel drauftun und / überlegen kann ob man / auch salz drangetan hat." Die französische Dichterin Odile Caradec tut es ihr nach. Beim Schälen der Kartoffeln entwerfe sie ihre Verse, hat sie einmal erzählt. Nur denkt sie dabei offenkundig weniger an die Vergänglichkeit als an die Kraft des Gedichts, noch aus dem unscheinbarsten Ding ein paar sprachliche Funken zu schlagen: "Halt in den Hän-den die wattige Kartoffel / In jedem Gemüse ist ein Tropfen Licht."

Wer am Meer aufwächst, bekommt vielleicht schon früh ein Gefühl für die Weite und für die Nuancen des Lichts. Odile Caradec kam 1925 in Brest auf die Welt. Ihr Vater war im dortigen Hafen als Makler für die einlaufenden Schiffe zuständig, ihre Mutter spielte als Cellistin im Orchester. Mühelos verbindet sie in ihren Gedichten die unterschiedlichsten Dinge und Sprachen mit der Musik und einem feinen Gespür für die Welten der Imagination. Wenn hier Kühe auf Autos und Celli treffen, fühlt man sich bisweilen wie in einem Bild von René Magritte. Aber auch die Erfahrungen des Krieges, als die Familie aus Brest flüchten musste, oder die Arbeit als Lehrerin haben in den Gedichten ihre Spuren hinterlassen.

Die ersten Gedichte sind das Ergebnis des Urknalls

In ihren mehr als zwanzig Büchern feiert Caradec nicht nur Clementinen und Katzen, Damen und Funken, sondern besingt auch immer wieder den Tod und die Vergänglichkeit des Körpers: "Beim Spaziergang über den Friedhof / verschlinge ich alle Toten / ich lasse keinen aus". Andernorts schließt sie Naturbeobachtungen mit Bildern aus Mythen oder mittelalterlichen Totentanz-Darstellungen kurz. Wo Inger Christensen Aprikosenbäume beschwört, pflanzt Odile Caradec "Apfelbäume / auf den Pfaden der Toten / und erfindet Zaubergießkannen". Die ersten Gedichte seien das Ergebnis des Urknalls, hat sie einmal geschrieben, die letzten, möchte man hinzufügen, lassen hoffentlich noch lange auf sich warten. An diesem Samstag feiert diese Dichterin des Lichts und der Zaubergießkannen ihren 95. Geburtstag. Und jeder Tropfen Licht feiert mit.

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