Süddeutsche Zeitung

Unbekannte Zeichnungen von Franz Kafka:Reflexionen über die Linie

Jahrelang lagen unbekannte Zeichnungen von Franz Kafka in einem Zürcher Banksafe. In einem intelligent kommentierten Sammelband sind sie jetzt erstmals zu sehen.

Von Lothar Müller

Dass Franz Kafka nicht nur geschrieben, sondern auch gezeichnet hat, wurde für ein breites Publikum spätestens sichtbar, als der S. Fischer Verlag Kafka-Zeichnungen auf die Titelseiten der Taschenbuchausgaben "Das Urteil" (1952), "Amerika" (1956) und "Der Prozeß" (1960) setzte. Schwarz hingetuscht stand eine Figur von einem Gitter umschlossen mit gespreizten Beinen da und schien mit auf dem Rücken verschränkten Armen das Urteil zu erwarten.

War das leere, vertikal zwischen zwei Trägern aufgehängte Rechteck, vor dem eine andere schwarze Figur Halt suchend mit dem rechten Arm den einen Träger berührte, ein Spiegel? Kaum berührten die Fußspitzen der unbequem, mit leicht gebogenem Rücken auf einem Stuhl sitzenden dritten schwarzen Figur den Boden unterhalb des Tisches, auf dem der Kopf zwischen rautenförmig, grotesk gefalteten Armen lag. Das musste der von der Wucht des Prozesses niedergedrückte Angeklagte sein.

Die Zeichnungen hatte Max Brod zur Verfügung gestellt. Er hatte zuvor schon in seiner Kafka-Biografie des Jahres 1937 und in anderen Büchern Zeichnungen Kafkas publiziert, etwa in "Franz Kafkas Glauben und Lehre" (1948). Dort bekräftigte er in einer Nachbemerkung "Zu den Illustrationen" seine Auffassung, Kafka sei "auch als Zeichner ein Künstler von besonderer Kraft und Eigenart" und fügte hinzu: "Niemand hat es bisher für nötig gehalten, sich mit Kafkas Doppelbegabung zu befassen, die Parallelen zwischen zeichnerischer und erzählerischer Vision zu verfolgen."

Brod berichtete zugleich, Kafka habe seinen Zeichnungen "noch gleichgültiger, oder besser gesagt, noch feindlicher" gegenübergestanden als seinen literarischen Hervorbringungen. Er habe sich die "Schmierereien" von ihm schenken lassen, manches aus dem Papierkorb geholt, anderes von den Rändern der Kollegienbücher abgeschnitten, auf denen es während des gemeinsamen Jurastudiums entstanden war: "Was ich nicht gerettet habe, ist untergegangen."

Etwa vierzig Kafka-Zeichnungen waren bisher bekannt. Nun ist, herausgegeben von Andreas Kilcher, Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich, ein opulenter Band erschienen, der in seinem "Werkverzeichnis" auf 163 Einträge kommt. Die Voraussetzung für diesen beträchtlichen Zuwachs ist das Ende eines Rechtsstreits, den Kilcher in seiner Überlieferungsgeschichte der Zeichnungen knapp zusammenfasst.

Max Brod hatte schon zu Lebzeiten seinen eigenen Nachlass sowie die in seinem Besitz befindlichen Manuskripte und Briefe Kafkas seiner langjährigen Sekretärin Ilse Ester Hoffe als Schenkung vermacht. Nach dem Tod Hoffes im Jahr 2007 beanspruchte die israelische Nationalbibliothek - deren Vorgängerin Jahrzehnte zuvor wenig Interesse an Kafka-Manuskripten gezeigt hatte - unter Verweis auf einen Paragraphen im Testament Brods den gesamten Brod-Nachlass einschließlich des darin enthaltenen Kafka-Teilnachlasses.

Max Brod hat diese Zeichnungen aus einem Heft des jungen Kafka ausgeschnitten

Gegen den Verweis der Töchter und Erbinnen Hoffes auf die schriftlich doppelt dokumentierte Schenkung gaben die israelischen Gerichte bis hin zur letztinstanzlichen Entscheidung des Obersten Gerichts im August 2016 dem Anspruch der Nationalbibliothek recht. Da die Manuskripte und Briefe Kafkas in einem Banksafe in Zürich lagen, musste die in Israel getroffene Entscheidung in der Schweiz rechtskräftig bestätigt werden. Das geschah im April 2019.

Was in den von Zürich nach Jerusalem überführten Manuskripten und Briefen stand, ist längst in die Kafka-Ausgaben eingegangen. Unbekannt war ein Großteil der auf Einzelblättern, Papierausschnitten, bedruckten oder handschriftlich beschriebenen Zetteln und kleineren Konvoluten überlieferten Zeichnungen. Eine Schlüsselrolle spielt das zwischen 1901 und 1907 entstandene Zeichnungsheft des jungen Kafka, aus dem Max Brod die schwarz hingetuschten Figuren ausgeschnitten hat, die durch die Fischer-Taschenbuchausgaben und ihre häufige Reproduktion das Bild des Zeichners Kafka nachhaltig geprägt haben.

Den insgesamt sechs Figuren, die Brod publizierte, treten nun vier bisher unbekannte zur Seite, auch sie mit Punkt-Punkt-Komma-Strich-Gesichtern ausgestattet, manche mit Köpfen, die im luftleeren Raum über dem Rumpf schweben, eine sitzbeinlos an einem Tisch, eine andere scheint sitzend damit beschäftigt, über dem gerade ausgestreckten linken Bein das rechte zu einem möglichst gleichschenkligen Dreieck zu drapieren. Eine sehr eigentümliche Denkerfigur auf einem Stuhl, den Kopf in die Hand gestützt, kommt hinzu, die auf unbekannte Weise aus dem von Brod zerschnippelten Zeichnungsheft ausgewandert, an einen unbekannten Standort gelangt und bisher nur einmal in einer auf hebräisch verfassten Abhandlung zur jüdischen Identität Kafkas publiziert worden ist.

Es ist sehr zu begrüßen, dass Andreas Kilcher der Überlieferungsgeschichte und Dokumentation der Zeichnungen einen ausführlichen Essay "Zeichnen und Schreiben bei Kafka" beigefügt hat. Denn er fährt darin einem Klischee in die Parade, das jüdische Autoren auf die Schrift festlegt und dem Judentum insgesamt eine Fremdheit gegenüber der bildenden Kunst attestiert. In diesem Sinne ließ Gustav Janouch in seinen "Gesprächen mit Kafka" (1951) seinen Helden sagen: "Wir Juden sind eigentlich keine Maler. Wir können die Dinge nicht statisch darstellen. Wir sehen sie immer im Fluss, in der Bewegung, als Wandlung."

Kilcher belässt es nicht dabei, den sehr fraglichen Quellenwert von Janouchs Buch herauszustellen. Er zeigt, wie stark bei Kafka schon in der Gymnasialzeit, vor allem aber in den Studienjahren an der Prager Universität, in denen der Großteil seiner Zeichnungen entstand, das Interesse an der bildenden Kunst war. Die Jura-Studenten Brod und Kafka waren zugleich Galeriebesucher, besuchten kunst- wie literaturwissenschaftliche Vorlesungen und Übungen, lasen Kunstzeitschriften und Monographien zur Kunst, übten sich im Zeichnen, zählten Künstler und angehende Kunsthistoriker zu ihrem Bekanntenkreis.

Während ihrer Studentenzeit brachte Martin Buber den Band "Jüdische Künstler" (1904) heraus, mit Essays über Max Liebermann, Lesser Ury, Josef Israels, E.M. Lilien, Solomon J. Solomon und Jehudo Epstein. Im Vorwort machte er die Öffnung und Eroberung des Reichs der bildenden Kunst zum Unterscheidungsmerkmal zwischen dem "antiken" Judentum und dem neuen, modernen, aktuellen, in dem sich "der Jude zum Vollmenschen" entwickelt.

In den Studienjahren ist der Prager Maler Emil Orlik als Repräsentant des zeitgenössischen Japonismus prägend

Kilcher zeigt im Blick auf die Jahresberichte der "Lese- und Redehalle" an der Prager Universität, auf die Kommilitonen und den aktuellen Galeriebetrieb in Prag, etwa die Gruppe "Die Acht", die Infrastruktur, in die Brods und Kafkas Interesse am Zeichnen eingebettet war in das generationstypische Interesse junger Juden an der modernen bildenden Kunst.

Für Brod wie für Kafka spielte in den Studienjahren der Prager Maler und Graphiker Emil Orlik als Repräsentant des zeitgenössischen Japonismus und damit der Reflexion über die Linie in der Zeichnung eine herausgehobene Rolle. Orlik hielt in Prag Vorträge über seine 1900/01 unternommene Japanreise, publizierte Feuilletons über den Farbholzschnitt in Japan, seine japanische Mappe wurde 1902 im Prager Rudolfinum ausgestellt. Eine Postkarte mit einer Frühlingslandschaft von Hiroshige Montanaga schickte Kafka im November 1908 an Max Brod.

Seine eigenen Experimente mit der Linie, die er in diesen Jahren unternahm, hatten Teil an der Aufwertung der Skizze als eigenständiger Form in der aktuellen Kunstkritik. Die Fechter, in denen der Borghesische Fechter des Louvre ein kleinformatiges, zweidimensionales, vergleichsweise abstraktes Gegenüber fand, die Tänzer, die aus der Anschauung einer japanischen Varietégruppe hervorgingen, die Pferde und Reiter in ihren sich verselbständigenden Bewegungskurven sind weder datiert noch signiert oder mit Titeln versehen. Es leuchtet ein, wenn Kilcher in ihnen, etwa in dem wütenden Trinker, der mit gefletschten Zähnen auf sein Weinglas hinabblickt, die Früchte eines eigenständigen zeichnerischen Impulses neben dem Schreiben sieht.

Aber schon in diesen frühen und vollends in den späteren Jahren ab 1909/10, in denen der Großteil des literarischen Werks entsteht, rücken die Zeichnungen immer wieder und immer enger an das Schreiben heran. Häufig finden sie nicht auf Einzelblättern ihren Ort wie die Köpfe der Mutter oder der Selbstporträts, die an Übungen im Zeichenunterricht erinnern, sondern auf den Schriftträgern eines Briefes, eines Manuskripts, einer Tagebuchnotiz. In diesem Grenzgebiet zwischen Schreiben und - sehr häufig - anspruchslosem Zeichnen ist das Bemühen um Vollständigkeit tückisch.

Suggestiv sticht aus dem Brief an Milena Jesenská vom Oktober 1920 die Skizze eines im Text beschriebenen Foltergerätes hervor, das Kafka im Text beschreibt: "Ist der Mann so befestigt, werden die Stangen langsam weiter hinausgeschoben, bis der Mann in der Mitte zerreißt. An der Säule lehnt der Erfinder und tut mit übereinandergeschlagenen Armen und Beinen sehr groß, so als ob das Ganze eine Originalerfindung wäre, während er es doch nur dem Fleischhauer abgeschaut hat, der das ausgeweidete Schwein vor seinem Laden ausspannt."

Doch so plausibel es ist, das Zeichnungsheft der frühen Jahre integral zu publizieren oder alle Zeichnungen aus den Reisetagebüchern 1911/12, darunter die (bekannte) von Goethes Gartenhaus im Park an der Ilm in Weimar zu versammeln, so sehr aus den Tagebüchern und Notizheften der späte Frauenkopf aus dem Jahr 1924, aus der Zeit mit Dora Diamant, hervorsticht, so sehr muss die Rubrik "Manuskripte mit Mustern und Ornamenten" den Begriff Zeichnung bis zur Ausfransung dehnen, um ihn für die hier dokumentierten Durchstreichungen, Schraffierungen oder bilderschriftartigen Zeichen in Anschlag bringen zu können. Eher ließe sich hier von einer Art Ausstülpung der graphischen Dimension von Manuskripten sprechen, die in den Archiven der modernen Literatur allgegenwärtig ist.

Es ist ratsam, im Angesicht der Zeichnungen nicht vor dem Gesamtwerk Kafkas zu erstarren

Schon Max Brod hat erwogen, alle Zeichnungen Kafkas zu publizieren, der Kunsthistoriker Paul Josef Hodin, der aus Prag stammte, ermunterte ihn um 1951 gar, Kafkas Zeichnungen weltweit in den großen Kunstmetropolen auszustellen. Brod verkaufte zwar einige wenige Zeichnungen an die Albertina in Wien und brachte Kafka damit in eine große graphische Sammlung, er rückte aber von den großen Plänen bald ab. In diesem Band, der nicht nur auf den Jerusalemer Bestand, sondern auch auf die Teilnachlässe in Marbach und Oxford zurückgeht, sind sie aufgegriffen.

In ihrem abschließenden Essay erörtert Judith Butler die Spannung und das Wechselspiel von Schreiben und Zeichnen bei Kafka und findet eine Gemeinsamkeit in der beide Sphären durchziehenden "Unmöglichkeit, den Boden zu berühren". An das damit aufgerufene Bild ließen sich Erwägungen über die Skizze, das Fragment und das beiläufig Improvisierte knüpfen. Es ist anzuraten, beim Durchgang durch diesen Band nicht in Ehrfurcht vor dem "Gesamtwerk" des Zeichners Kafka zu erstarren, sondern im Blick auf die Zeichnungen die Beiläufigkeit nicht zu übersehen, die in ihnen enthalten ist.

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