Franz Fühmanns 100. Geburtstag:Wie leicht man schuldig werden konnte

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"Erst beim Schreiben wird mir eine Sache problematisch": Franz Fühmann. (Foto: Barbara Morgenstern/picture alliance / ZB)

Schriftstellerinnen und Autoren aus dem ganzen Land feiern den 100. Geburtstag von Franz Fühmann - und die Kulturstaatsministerin füllt eine Lücke.

Von Lothar Müller

Meist hören Biografien mit dem Tod auf. Aber es beginnt dann eine neue Biografie, das Nachleben. Auch hier gibt es frühe Jahre, Lebenskrisen, Verkennungen und Enttäuschungen, auch hier die Wiederkehr des Verdrängten, das langsame Dahindämmern oder die plötzlich auflodernde Vitalität. Nur findet all dies auf den Projektionsflächen der Nachwelt statt.

Franz Fühmann, geboren am 15. Januar 1922 in Rochlitz am Riesengebirge in Böhmen, Sohn eines Apothekers mit unternehmerischen Ambitionen, ab 1932 vier Jahre lang Zögling in einem Jesuitenkonvikt bei Wien, war alt genug, um in jungen Jahren Parteigänger des sudetendeutschen Nationalsozialismus zu werden und sich bei Kriegsausbruch 1939 freiwillig zum Militärdienst zu melden. Er musste sich vorerst mit dem Reichsarbeitsdienst begnügen, kam aber 1941 als Fernmelder an die Ostfront, später nach Griechenland.

Nach Kriegsende, in der russischen Kriegsgefangenschaft, wurde er nicht nur in den Marxismus-Leninismus eingeführt, sondern auch über die Verbrechen des Nationalsozialismus aufgeklärt. Er begriff die Lehren so gut, dass er rasch zum Lehrgruppenleiter in Antifa-Schulen aufstieg und, als er 1949 in die eben gegründete DDR entlassen wurde, wenig später in den Apparat der Blockpartei NDPD (Nationaldemokratische Partei Deutschlands) eintrat und fast ein Jahrzehnt als kulturpolitischer Funktionär tätig war.

Das Ende der DDR hat er nicht mehr erlebt, er starb im Juli 1984

Früh hatte er zu schreiben begonnen, war schon in der NS-Zeitschrift Das Reich publiziert worden, hatte 1942 in Hamburg einen Gedichtband herausgebracht, 1955 druckte Sinn und Form, die Zeitschrift der "Deutschen Akademie der Künste" in der DDR, zwei Gedichte. Ab 1958 lebte er freischaffend zwischen Ostberlin und Märkisch Buchholz. Die Grenze nach Westberlin konnte er auch nach 1961 überqueren, oft kehrte er mit übervollen Büchertaschen zurück.

Alles, was er erlebte, fand Eingang in seine Schriften, alle Verblendungen, alle Selbstabrechnungen, alle Entdeckungen in der Universalbibliothek. Noch 1982, als er in München den Geschwister-Scholl-Preis entgegennahm, bekannte er sich zu der DDR als seinem Staat, mit dem er aber längst haderte, dessen Stasi ihn überwachte und seine Lesungen torpedierte, nachdem er 1976 zu den Erstunterzeichnern der Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns gehört hatte. Das Ende der DDR hat er nicht mehr erlebt, er starb im Juli 1984 an einer Krebserkrankung, in Märkisch Buchholz ist er begraben.

Am Dienstagabend berichtete die Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth, im Plenarsaal der Berliner Akademie der Künste am Pariser Platz, wie sie Ende vergangenen Jahres eine Lücke in ihrem Bücherregal entdeckte. Ein Freund, der in Pankow lebt, habe sie bei ihrem Amtsantritt gebeten: "Claudia, vergiss bitte den 100. Geburtstag von Franz Fühmann nicht!" Der Name sagte ihr nichts, er war nicht Teil ihrer Welt. Bemerkenswert freimütig bekannte die Kulturstaatsministerin vor einem Publikum, das zur Feier des Schriftstellers zusammengekommen war, diese Unkenntnis. Sie sprach über "das fehlende F" als Lücke in ihrem Bewusstsein davon, was deutsche Kultur sei. Sie hatte also begonnen, Fühmann zu lesen. Das war programmatisch gemeint. Zu Unrecht, fuhr sie fort, seien in den Neunzigerjahren viele Autoren und Autorinnen, die in den damals "neuen Ländern" zur Leseerfahrung gehörten, "zur Seite geräumt" worden. Die Lücke im eigenen Bücherregal als Symptom für das Auseinanderklaffen deutsch-deutscher Lesebiografien.

Mit "Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens" erfindet er sich neu

Das Programm, dies zu ändern, ist begrüßenswert, aber es füllt "das fehlende F" nicht aus. Franz Fühmann ist mehr als ein Schriftsteller aus der ehemaligen DDR, der mit ihr in die Distanz rückt. Wenn sich an der Fülle von Veranstaltungen, die ihm rund um seinen 100. Geburtstag in Berlin gewidmet waren, etwas ablesen lässt, dann dies: Franz Fühmann ist in einer Phase seines Nachlebens angekommen, in der er mehr und mehr in die Universalbibliothek hineinwächst.

Ja, es stimmt schon. Wer wie Claudia Roth 1955 in Ulm geboren wurde, hatte weniger gute Chancen, Fühmann in jungen Jahren zu begegnen, als etwa Ingo Schulze, der während ihrer Begrüßungsansprache auf dem Podium der Akademie saß und später berichtete, wie ihm als Kind Fühmann vorgelesen wurde und der Band "Das hölzerne Pferd - Die Sage vom Untergang Trojas und von den Irrfahrten des Odysseus" geschenkt wurde. Aber neben ihm saß Isabel Fargo Cole, 1973 in Illinois geboren und in den frühen Neunzigerjahren nach Berlin gekommen, die hier zur deutsch schreibenden Schriftstellerin wurde, Fühmann über seinen Schützling Wolfgang Hilbig entdeckte und beide ins Amerikanische übersetzt hat. Die Moderatorin des Abends war Elisa Primavera-Lévy, 1976 in München geboren, als Redakteurin der Zeitschrift Sinn und Form zuständig für den Fühmann-Schwerpunkt im aktuellen Heft, darunter die Essays von Isabel Fargo Cole und Ingo Schulze.

Cole sieht im Wort "Wandlung" ein Schlüsselwort für Fühmann, der im "Judenauto" in quälender Anschaulichkeit und ohne reflexive erzählerische Puffer Einblick in die Innenwelten seiner Kindheit mit den blutritualgetränkten Schreckensbildern des Antisemitismus und den Glauben des jungen Nationalsozialisten an den Endsieg gibt und später die für die frühe DDR prägende Personalunion von Antifaschismus und Stalinismus verkörpert. 1973 dann erfindet er sich im Tagebuch der Ungarnreise "Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens" (1973) als Schriftsteller neu und stellt die Schreckensvision, wie leicht und einverständig er hätte zum Wachmann in Auschwitz werden können, ins Zentrum seiner Lebensgeschichte.

Wenn er jetzt die Entsorgungskisten der DDR-Literatur verlassen sollte, umso besser

Bereits eine Woche vor dem 100. Geburtstag hatte das Literaturforum im Brecht-Haus Franz Fühmann einen ganzen Veranstaltungszyklus gewidmet. Auch hier tauchte immer wieder der Kinderbuchautor Fühmann auf, mit seinen Mythen-Neuerzählungen, seiner Doris Zauberbein, dem Schneesee, in dem Vokalkaskaden des "e" aufschäumen, mit dem sprachspielversprechenden Titel "Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel".

Ob aber Corinna Harfouch aus Fühmanns Werk las oder Gegenwartsautoren über ihn nachdachten, stets bildeten Sprachspiel, Unruhe und Schrecken einen Dreiklang. Etwa wenn Kerstin Hensel, 1961 in Karl-Marx-Stadt geboren, das heute wieder Chemnitz heißt, in Fühmanns Gedicht "In Frau Trudes Haus" und seiner Umschrift des Grimm'schen Märchens den "Wahrnehmungsbetrug", die "Verdrängung der Jahrhundertkatastrophe" wiedererkannte, die sie im eigenen deutschen Familienhaus erlebt hatte. Annett Gröschner, Berlinerin des Jahrgangs 1964, entdeckte in Fühmanns "Zweiundzwanzig Tage" syntaktische Modelle des fragmentarischen Schreibens. Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, machte sich Fühmanns Satz "Erst beim Schreiben wird mir eine Sache problematisch" zu eigen und erinnerte sich, wie sie Fühmanns Bücher in den frühen Neunzigern aus einer Kiste mit entsorgter DDR-Literatur barg.

Am Abend des 15. Januar fand in der St. Matthäikirche am Kulturforum ein langer Leseabend für Franz Fühmann statt, mit Volker Braun, Uwe Kolbe, Kerstin Hensel und vielen anderen, darunter auch Jan Philipp Reemtsma, der bezeugte, dass Fühmann schon vor 1989 Teil der deutschen Literatur insgesamt war. Wenn er jetzt die Entsorgungskisten der DDR-Literatur endgültig verlassen sollte, umso besser. Im Literaturforum im Brecht-Haus gab der Literaturwissenschaftler Roland Berbig Einblick in seine bisher unedierten Taschenkalender, die in einer schwer entzifferbaren privaten Steno-Variante geschrieben sind. Sie zeigen wie der zum Essay ausgebaute Vortrag "Über das mythische Element in der Literatur", den Ingo Schulze als "Augenöffner" für sein eigenes Schreiben bezeichnete, den Dialog mit der Universalbibliothek, den alten Mythen, ihren Deutungen durch Thomas Mann und Karl Kerényi, die langjährige Lektüre von Sigmund Freud, das Anwachsen der Traumaufzeichnungen zu einem großen Werkkomplex. Die Lücke im Regal der Kulturstaatsministerin ist noch nicht vollständig ausgemessen.

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