Frankreich:Verschwinden als Utopie

Blick ins Buch

Jérôme Leroys Krimi "Die Verdunkelten" hat eine pfiffige Grundidee, versandet aber im Niemandsland zwischen Entropie und Öko-Kitsch.

Von Alex Rühle

Die Grundidee für diesen Kriminalroman ist bestechend: Die Menschen verschwinden. Einzeln. Freiwillig. Ohne Absprache oder verschwörerische Pläne. Weder bringen sie sich um noch tauchen sie agentenartig unter, sie ziehen sich einfach nur aus dem tristen Irrsinn der entfremdeten Büroarbeit inkl. Feierabendehe zurück. Diese "Verdunkelten", wie sie von den Medien und der Polizei genannt werden, gehen an die Ränder, mieten ein Zimmer in einer Kleinstadt oder am Strand, verweigern sich dem üblichen Hamsterrad und praktizieren fortan das Leben, das man sich selbst oft im zerhäckselten Stroboskopalltag imaginiert: Poesie lesen, Nutzloses tun, im Augenblick rundum präsent sein.

Was natürlich spätestens dann zu großen Problemen führt, wenn sogar Leute wie der oberste Verantwortliche für sämtliche französischen Atomkraftwerke eines Morgens einfach nicht mehr zur Arbeit erscheinen. Befragt, warum um alles in der Welt er alles hingeschmissen habe, sagt dieser Mann, er habe ein paar Tage zuvor gesehen, "wie ein Kind in der Yèvre angelte, bei einer Brücke, an der Stelle, wo sie in die Cher fließt. Es war um zwei Uhr nachmittags und er hatte einfach Lust, es ihm gleichzutun."

Wie gesagt, ein betörender Grundeinfall, der als Sehnsuchtsmetapher gut zu einer Zeit passt, in der auch dem Letzten klar ist, dass unser spätkapitalistisches System nicht die kollektive Weltbeglückung bringt. Und der außerdem zu einem Land passt, das 2015 unter kollektivem Schock stand. Der Franzose Jérôme Leroy begann "Die Verdunkelten" nach den Anschlägen auf das Bataclan, die Pariser Café-Terrassen und unser aller Lebensstil. Er siedelt sein Buch in einer nahen und rundum utopischen Zukunft an, ein Idyll aus dörflichem Ziehbrunnen, Kaminprasseln, Eselskarren. Dort lebt die ehemalige Agentin Agnès und erzählt ihrer Tochter Ada, wie das damals war, in unserer Zeit, als alles in die große, dunkle Entropie zu münden schien und immer mehr Leute beschlossen, auszusteigen.

Parallel zu ihrer Erzählung aus der nahen Zukunft wird im Hier und Jetzt erzählt, wie Guillaume Trimbert, ehemaliger Lehrer, ehemaliger Star der Linken, sich aufs sanfte Verschwinden vorbereitet. Und wie eine Agentin, die junge Agnès, vom Geheimdienst auf ihn angesetzt wird, um zu prüfen, was diese seltsame Aussteigerei soll.

Leider verkümmert der eine Erzählstrang bald zu extremem Landhauskitsch, der andere zu einem unglaubwürdigen Krimiplot samt peinlicher Altmännerfantasie. Die utopischen Szenen sind vollkommen unrealistisch, weil Leroy sich nie die Mühe macht zu erklären, wie es kommt, dass um das Jahr 2030 plötzlich alle in vollendeter Harmonie in ihrer Cevennen-Öko-Idylle sitzen. Im Hier und Heute aber geht einem der schwermütige Trimbert mit seinen Lyrikzitaten und philosophischen Schwermutsexkursen sehr schnell dermaßen auf den Senkel, dass man denkt, na, nun verschwind schon endlich. Warum die junge, schöne Agnès diesem abgehalfterten Alltagspoeten mit seinen vergilbten Lyrikbänden verfallen sollte, muss auf ewig Leroys Geheimnis bleiben.

Jérôme Leroy: Die Verdunkelten. Aus dem Französischen von Cornelia Wend. Edition Nautilus, Hamburg 2018. 224 Seiten, 18 Euro.

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