Frankreich:Ungleichheit im Land der Chancengleichheit

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Wie konnten sich die Verhältnisse entwickeln, in denen die randalierenden Jugendlichen leben? Die französische politische Klasse leidet an einer selbstverordneten Blindheit gegenüber den Problemen der unterprivilegierten Einwanderer.

Johannes Willms

Wie Deutschland ist auch Frankreich seit den fernen Tagen der industriellen Revolution ein Einwanderungsland. Die Schwerindustrie, die in den Bergbauregionen im Nordosten Frankreichs um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstand, lockte zunächst Arbeitsimmigranten aus dem benachbarten Belgien an. Ihnen folgten Italiener und Polen, Armenier und Russen.

Rauch über Nantes nach einer weiteren Krawall-Nacht. (Foto: Foto: AFP)

War die wirtschaftliche Konjunktur rückläufig, kam es zu massenhaften Entlassungen. Bis in die zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts griff man zu dem drastischen Mittel, diese mit einem Mal überflüssig und damit lästig gewordenen Arbeitskräfte gewaltsam des Landes zu verweisen.

Wer diesem Schicksal entging, der wurde rasch und weitgehend reibungslos assimiliert. Spätestens die Kinder dieser Immigranten hatten im Land der "Egalité" alle Chancen, sozialen Aufstieg zu realisieren.

Dies lässt sich an einigen bekannten Namen illustrieren: Charles Aznavour ist der Sohn armenischer Flüchtlinge, Georges Moustaki ist ägyptisch-jüdischer Abstammung. Serge Reggiani war der Sohn eines italienischen Friseurs, der vor Mussolini nach Frankreich floh, und Yves Montand, der eigentlich Ito Livi hieß, stammte ebenfalls aus Italien.

Sein Vater war ein kleiner Bauer und Besenmacher, dem die Faschisten seine elende Werkstatt anzündeten und der daraufhin nach Frankreich emigrierte. Andere Beispiele sind der aus Argentinien stammende Schriftsteller Hector Bianchiotti, der Mitglied der Académie Française ist oder der aus Spanien gebürtige Jorge Semprun.

Sogar der derzeitige Innenminister und Chef der großen Mitte-Rechts-Partei UMP (Union pour un Mouvement populaire) ist der Sohn eines Ungarn, der bei Kriegsende nach Frankreich flüchtete. Studiert man die Namen von Arztpraxen und Anwaltskanzleien, wird man zumal in Paris erstaunlich viele Namen entdecken, die ganz und gar nicht französisch klingen.

Um den Aufstieg betrogen

Ebenso verhält es sich mit vielen Geschäftsadressen und Ladenschildern, die alle von einer erfolgreichen Assimilation erzählen, die nicht zuletzt Friedrich Sieburg in seinem Buch "Gott in Frankreich?" mit uneingeschränkter Bewunderung geschildert hat. Doch diese Assimilation funktioniert hier und heute nicht mehr.

Das hat viele Gründe. Zum einen muss man dafür die massive Anwerbung von Arbeitskräften vor allem aus den nordafrikanischen Staaten und den ehemaligen schwarzafrikanischen Kolonien Frankreichs verantwortlich machen, die für das französische Wirtschaftswunder der "trente glorieuses" gebraucht wurden: die Zeit der späten fünfziger bis in die achtziger Jahre.

Vor allem die von Präsident Giscard d'Estaing initiierte Familienzusammenführung ließ diese Zuwanderung zu einem Strom anschwellen, der sich in dem Maße, wie sich die Hochkonjunktur abkühlte, zu einem sozialen Problem auswuchs.

Der Assimilationsprozess verlangsamte sich, die Immigranten lösten sich nicht mehr in der Masse der Franzosen auf, sondern blieben mehr und mehr unter sich, etablierten ihre eigenen Milieus und gaben ihrer traditionellen Kultur den Vorrang.

Diese Entwicklung ging von Anfang an Hand in Hand mit einer schleichenden Ghettobildung: Im Umland der Großstädte und Industriezentren errichtete man in rascher Folge Wohngebiete auf der grünen Wiese, die zwar auf eine soziale Durchmischung ihrer Einwohner angelegt waren, aber schnell zu urbanen "Problemzonen" verkamen, weil diejenigen, die es sich irgend leisten konnten, ihnen den Rücken kehrten.

Diese Entwicklung verstärkte sich in dem Maße, wie die wirtschaftliche Krise anhielt und sich verschärfte. Die Folge ist eine historisch unerhörte Zusammenballung gesellschaftlich Ausgeschlossener in solchen Wohnvierteln, ausgeschlossen von der Mehrheitsgesellschaft und mit ihren Problemen und enttäuschten Erwartungen weitgehend sich selbst überlassen.

Zustände, wie sie die Metropolen der Dritten Welt kennen, zogen in die französischen Städte ein. Besonders problematisch daran ist, dass sich vor allem die zweite Generation, also die bereits in Frankreich geborenen Kinder der Zuwanderer, die dank des Staatsbürgerrechts des "jus soli" automatisch Franzosen sind, um die Aussicht auf sozialen Aufstieg betrogen fühlt, auf den sie einen verbrieften Anspruch hat und der allein eine Assimilation ermöglicht

Dieses kollektive Erlebnis der Zukunftslosigkeit löste zwar jetzt erst die über das ganze Land sich ausbreitenden Explosion aus, unvermeidlich wurde diese aber nur durch die jahrzehntelange Untätigkeit und Blindheit der französischen Innenpolitik.

Die wichtigste Ursache dieser Inaktivität ist, was man als "republikanische Selbstlähmung" bezeichnen könnte: In Frankreich ist es aus Rücksicht auf den Staatsgrundsatz der "Egalité" ein politisches Tabu, ethnische oder religiöse Bindungen offiziell überhaupt wahrzunehmen.

Diese selbstverordnete Blindheit geht so weit, dass es sogar ausdrücklich verboten ist, einschlägige Statistiken aufzustellen. Darum lassen sich über die im Lande lebenden Minderheiten keinerlei gesicherte Aussagen treffen - niemand kann genau feststellen, welche Defizite die Integration dieser Minderheiten aufweist und wie diese durch gezielte Förderungsmaßnahmen zu beheben seien. Derlei wird als discrimination positive strikt verpönt.

Anspruch und Wirklichkeit

Diese Wahrnehmungsverweigerung hat einen Teufelskreis initiiert, weil die Kehrseite der offiziell geächteten discrimination positive inoffiziell natürlich gang und gäbe ist:

Wer einen nordafrikanischen Familiennamen trägt oder dunkler Hautfarbe ist oder als Adresse eine der Problemzonen angibt, wird es selbst bei gleicher Qualifikation unendlich viel schwerer haben, einen Arbeitsplatz, eine Wohnung oder einen Kredit zu bekommen als ein M. Dupont aus dem feinen XVI. Arrondissement in Paris: Im Land der prinzipiellen Chancengleichheit herrscht die kulturelle Praxis einer erschreckenden Ungleichheit.

Um dieses Problem zu beheben, braucht es einen entschlossenen Staat, der nicht nur mit Polizeigewalt für den Respekt vor der "republikanischen Ordnung" sorgt, sondern vor allem das Übel an der Wurzel packt und die proklamierte Gleichheit aller Bürger auch tatsächlich durchsetzt.

Nötig ist dafür nicht nur politische Phantasie und viel Geld, sondern vor allem die Bereitschaft aller Bürger, sich der Herausforderungen, die das Postulat der "Egalité" an jeden Einzelnen stellt, bewusst zu werden. Die Krise, die Frankreich in diesen Tagen erlebt, wird von den brennenden Autos und Schulen in den Problemzonen lediglich illuminiert.

Die eigentliche Krise ist das Unvermögen der politischen Klasse des Landes, diese wahrhaft erschreckenden und das Bild Frankreichs in der Welt verdunkelnden Symptome gründlich zu therapieren und neue Assimilationsstrategien zu entwickeln, statt bloß einer Integration das Wort zu reden, die sich den Problemen verweigert, weil sie sich damit bescheidet, Sicherheit und Ordnung mit polizeilicher Repression zu erzwingen.

© SZ vom 8. November 2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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