Frankreich:"Und sagen Sie nicht, Sie hätten es nicht gewusst"

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Vorsorgliches Halluzinieren: Comiczeichner, Soziologen und Schrifsteller malen sich ein Frankreich unter Marine Le Pen aus. Die Furcht davor geistert seit Jahren durch den öffentlichen Diskurs.

Von Joseph Hanimann

In der ersten Vignette das zögernde Verharren der Wählerhand mit den Wahlzetteln: François Hollande oder Marine Le Pen? Dann das Gesicht der Siegerin am 7. Mai 2017 im Fernsehen. Der Comicband "La Présidente", eine Politfiktion über das Ergebnis der nächsten Präsidentschaftswahlen in Frankreich, liegt in allen Buchhandlungen. Verfasst haben ihn der Kulturwissenschaftler François Durpaire und der Zeichner Farid Boudjellal. "Sie werden später nicht sagen können, Sie hätten es nicht gewusst", mahnt ein roter Aufkleber auf dem Cover.

Auch vom Charlie Hebdo-Herausgeber Riss und dessen schriftstellerndem Anwalt Richard Malka soll demnächst ein Comic über das Thema erscheinen. Und "Le Séisme - Marine Le Pen Présidente" heißt ein Buch des Soziologen Michel Wieviorka mit Reportagen eines fiktiven amerikanischen Zeitungskorrespondenten aus dem Frankreich nach der Wahl Marine Le Pens zur Staatspräsidentin. Der Romanautor Arnaud Vivant spielt als Herausgeber der demnächst erscheinenden Novellensammlung "2017: L'élection improbable" (Die unwahrscheinliche Wahl) ebenfalls mit dieser Hypothese.

"Machen Sie erst mal Ihre Hausaufgaben, Madame!", schilt Merkel Marine Le Pen. Abbildung aus "La Présidente" (Foto: pascalberrard)

Die Furcht vor einem solchen Szenario geistert in Frankreich seit Jahren durch den öffentlichen Diskurs. Und die sich jagenden Wahlerfolge des Front National lassen es als durchaus denkbar erscheinen. Die Betroffene selbst und ihre Partei halten sich aus der Diskussion klug heraus. Marine Le Pen hat sich eine Medienpause auferlegt und schielt auf potenzielle Sympathisanten aus der bürgerlichen Mitte, im Gegensatz zu ihrem Vater, der diese einst verschreckte. Selbst auf die traditionelle Versammlung vor der Statue der Jeanne d'Arc in Paris am 1. Mai will die Führung des Front National dieses Jahr wegen der Gefahr möglicher Anschläge großzügig verzichten - und erntet dafür schon Anerkennung. Sie weiß: Die Zeit spielt ihr in die Hände.

Interessant ist, wie ihre Gegner die Folgen der Präsidentschaft von Marine Le Pen darstellen. Es steht im Kontrast zu dem, was sich Michel Houellebecq in seinem Roman "Unterwerfung" als Situation unter einem islamistischen Staatspräsidenten ausmalte. Der Autor lässt dort unsere Beklemmung still vor sich hinglimmen angesichts der von ihm beschriebenen neuen Normalität: Es herrscht Vollbeschäftigung, weil die Frauen an den Herd zurückkehren; die Kriminalität geht zurück; und an der "Islamischen Universität Paris-Sorbonne" herrscht neue Disziplin. Das Frankreich unter Marine Le Pen hingegen steuert in der Vorstellung der Politologen, Schriftsteller und Zeichner auf den Zusammenbruch zu.

(Foto: pascalberrard)

Wieviorka, dessen Vision mit der Wiedereinführung der Todesstrafe, dem Austritt Frankreichs aus der Nato und dem Ausschluss von Ausländern vom Recht auf Sozialwohnungen im Übrigen wenig Überraschendes bringt, lässt den amerikanischen Korrespondenten von einer Jahrhundertüberschwemmung der Seine im Dezember 2017 berichten. Schlimmer noch als jene von 1910, führt diese zur Umsiedlung von einer Million Parisern und treibt die durch die Wiedereinführung des Franc ohnehin schon leidgeplagte Bevölkerung zum Aufstand gegen die überforderte Regierung Marine Le Pens.

Im Comic von Durpaire und Boudjellal laufen die Dinge ähnlich, aber viel subtiler. Im Zentrum des Interesses stehen dort die Hindernisse bei der Umsetzung des rechtspopulistischen Programms.

Als das Volk gegen die Regierung auf die Straße geht, schickt US-Präsidentin Clinton Hilfe

Auch de Gaulle habe schon einmal das Führungsgremium der Nato verlassen, während des Kalten Krieges aber zumindest die Verpflichtungen der Abschreckung eingehalten, mahnt Hollande im vertraulichen Gespräch bei der Machtübergabe seine Nachfolgerin. "In welcher Welt leben Sie denn?", gibt diese zurück: Ihre Leute hätten längst mit der amerikanischen Präsidentin Clinton Kontakt aufgenommen und sich über das Weitere verständigt. Die wiedergewählte Bundeskanzlerin Merkel macht ihrer französischen Kollegin in Europa aber das Leben schwer. Und als das Volk angesichts der Wirtschafts- und Flüchtlingskrise eine drastischere Politik verlangt und gegen die Regierung auf die Straße geht, unterstützen die USA den Aufstand. Als einzige weltpolitische Stütze bleibt Le Pen der russische Präsidentin Putin.

Die düsteren Visionen wirken wie eine Variante dessen, was der Romanautor Antoine Laurain in seinem neuen Buch "Rhapsodie française" schildert. Ein Millionär wird dort von der Volksstimmung ins Élysée getragen, nur weil ein 1983 abgeschickter Brief 33 Jahre lang brauchte, um beim Empfänger einzutreffen. Wäre er rechtzeitig angekommen, wären die Ereignisse ganz anders gelaufen. Was in diesem Roman durch die Verspätung der Botschaft dann tatsächlich eintritt, soll in den aktuellen Comics und Politfiktionen über Marine Le Pen durch vorzeitiges Halluzinieren abgewandt werden. Ein so unterhaltsames wie hilfloses Beben geht durchs Land.

© SZ vom 18.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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