Theater:"Wir sterben, aber nicht auf der Bühne"

Theater: Vor dem Théâtre du Nord in Lille protestieren durch die Seuche arbeitslos gewordene Künstler.

Vor dem Théâtre du Nord in Lille protestieren durch die Seuche arbeitslos gewordene Künstler.

(Foto: Michel Spingler/AP)

Die französischen Theaterbesetzungen weiten sich aus, doch die Forderungen der Protestierenden sind sehr unterschiedlich.

Von Joseph Hanimann

So überraschend es klingen mag: Die eigensinnigen Franzosen gehören zu den wohl diszipliniertesten Zeitgenossen in dieser Covid-Ära. Eine nennenswerte Antimaskenbewegung gibt es nicht unter ihnen und auf der Straße trägt so gut wie jeder und jede das obligatorische Ding, wenn auch manchmal etwas lässig als eine Art Geiferlatz unterm Kinn. Und auch die Freimütigsten im Land, die Künstler, halten sich an die Regeln. Wenn sich unter ihnen nun also plötzlich Unmut regt und mittlerweile an die drei Dutzend Theater besetzt werden, hat das seine Gründe.

Manche Sektoren der Kulturszene sind nach einem Jahr Corona am Ende ihres Durchhaltevermögens. Die Verlage, Buchhandlungen und damit auch die Autoren haben die Krise besser als zunächst befürchtet überstanden. Bildende Künstler finden, wo die Museen geschlossen sind, im großen Publikumsandrang auf die offen gebliebenen Kunstgalerien zumindest eine symbolische Anerkennung. Schauspieler, freie Musiker, Bühnen- und Filmtechniker hingegen fühlen sich trotz diverser Nothilfeprogramme von der Regierung im Stich gelassen. In einem Land, wo die Theater, von einigen Ausnahmen abgesehen, keine festen Ensembles haben und die Mitwirkenden jeweils von Produktion zu Produktion engagiert werden, hat das materiell gravierende Folgen. Viele werden sich vom Produktionseinbruch nicht mehr erholen. "Totalausverkauf", "Opferstätte Kultur", "Wir sterben, aber nicht auf der Bühne" und ähnliches steht auf den Spruchbändern der besetzten Häuser.

Diese streuen sich nach dem Anfang am Pariser Odeon-Theater (SZ vom 12. März) mittlerweile übers ganze Land, bis zum Théâtre du Nord in Lille, dem Nationaltheater Straßburg, dem Théâtre National Populaire in Villeurbanne, dem Théâtre de la Criée in Marseille, Théâtre de la Cité in Toulouse oder den Opernhäusern von Bordeaux und Nantes. An vielen Orten haben sich auch Schauspielschüler, angehende Bühnen- und Kostümbildnerinnen, Autorinnen und Regisseure eingeschaltet. Entsprechend unterschiedlich fallen die Forderungen aus.

So leben die probenden und die protestierenden Künstler an vielen Orten aneinander vorbei, die einen drinnen im Saal, die anderen auf ihren Matratzen im Foyer

"Angesichts des Programmstaus nach einem Jahr Schließung haben wir keinerlei Chancen, vor der Saison 2023 ein Publikum zu finden", klagen in Marseille die jungen Künstler und drängen auf sofortige Öffnung. Wie das gehen soll in einem Land, das weiterhin ab 18 Uhr unter Ausgehverbot steht, wissen sie allerdings auch nicht recht. Andere, vorwiegend gewerkschaftlich organisierte Besetzer wollen die Bewegung auf die allgemeine Ebene der Künstlersozialversicherung ausweiten. Damit rückt aufs Neue das Thema des sozialen Sonderregimes für die "Intermittents", die von Projekt zu Projekt sich angelnden Künstler und Techniker, auf deren Einsatz das französische Produktionssystem in der Branche weitgehend beruht, in den Mittelpunkt.

Um ein Anrecht auf Arbeitslosengeld und sonstige Sozialhilfen zu haben, muss man im Bühnengewerbe aus den jeweils zurückliegenden zehn Monaten mindestens 507 Arbeitssunden nachweisen können. Angesichts des Covid-Jahrs ist die Zählung bis Ende August 2021 ausgesetzt worden. Jeder Bezüger bekommt ohne Hinsicht auf die geleistete Arbeitszeit weiterhin seine Auszahlungen. Das seien aber eben viel zu wenige, wenden die Theaterbesetzer ein, denn die zahlreichen kleineren freien Truppen hätten es nie auf die nötige Arbeitsstundenzahl gebracht. Sie stünden nun vor dem endgültigen Aus. Deshalb wollen die Besetzer nicht nur das Freijahr um ein weiteres verlängert haben, sondern auch eine Ausweitung des "Intermittent"-Status auf möglichst alle erkämpfen. Denn die von der Kulturministerin Roselyne Bachelot in der vergangenen Woche angekündigten 30 Millionen Euro Sonderhilfe, zusätzlich zu den vorher schon veranschlagten 30 Millionen, seien eine Lappalie. Der kommunistisch orientierten Gewerkschaft CGT, die bei den Theaterbesetzungen seit dem Auftakt im Odeon eine führende Rolle spielt, geht es überdies um eine Wiederaufnahme des Kampfs gegen Macrons allgemeine Rentenreform, die durch das Corona-Jahr ausgesetzt, aber keineswegs gekippt wurde. Das ist allerdings ein gewagtes Kalkül. "Das Schlimmste, was uns passieren könnte, wäre eine Verlängerung des Freijahrs und sonst nichts", bemerkte ein Theaterbesetzer in Paris: Denn in den Augen der Bevölkerung stünden die Künstler dann wieder als die Bevorzugten da.

Die Theaterleiter zwingt die gegenwärtige Situation in einen Eiertanz zwischen prinzipieller Solidarität und konkreter Verantwortung für ihre Häuser. Wurden in Lille oder in Avignon den Besetzern bereitwillig die Tore geöffnet, waren sie an dem meisten anderen Orten weniger willkommen. An vielen Theatern gehen trotz Aufführungspause die Proben weiter, in Erwartung einer möglichst baldigen, wenig wahrscheinlichen und doch dringend erhofften Wiederöffnung. So leben die probenden und die protestierenden Künstler an vielen Orten aneinander vorbei, die einen drinnen im Saal, die anderen auf ihren Matratzen im Foyer. Dass daraus eine breite Bewegung entstehen wird, ist also wenig wahrscheinlich. Dass die geschlossenen Theater freiwillig unfreiwillig vorerst weiterhin Schlagzeilen machen werden, hingegen schon.

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