Frankreich:Unten kämpft gegen ganz unten

Projekt GRAND PARIS - Fotoreportage

Statt der 150 000 neuen Sozialwohnungen, die der frühere Präsident François Hollande jährlich bauen lassen wollte, sind es heute 10 000. Mit rückläufiger Tendenz.

(Foto: Johannes Simon)
  • Der Protest der Gelbwesten überschattet die Wohnungskrise in Frankreich.
  • Viele Gebäude sind baufällig, "Schlafspekulanten" machen Profit mit minimalstem Wohnraum.
  • Der Umzug ins Auto, ins Zelt oder auf die Parkbank ist schon zum literarischen Topos geworden.

Von Joseph Hanimann

Abdelghami Mouzid war am Morgen des 5. November 2018 unterwegs zur Verwaltung seines Wohnhauses im Zentrum von Marseille. Auf seinem Handy hatte er Risse in der Wand gefilmt, die Küchentür, die plötzlich nicht mehr schloss, einen Spalt zwischen Spülbecken und Mauer. Noch bevor er wieder zurück war, gab es das Haus in der Rue d'Aubagne nicht mehr. Es war mitsamt dem Nachbarhaus eingestürzt. Acht Tote wurden aus den Trümmern geborgen. In den Wochen danach evakuierte man an die 2000 Marseiller aus ähnlich baufälligen Häusern.

In die Kritik geriet vor allem Jean-Claude Gaudin, seit 23 Jahren Bürgermeister der Stadt. Er habe allein das schicke Marseille im Kopf, die neuen Firmensitze, Museen, Luxuswohnungen, die attraktiven Boulevards, Promenaden und Plätze mit Prestigeprojekten von Architekten wie Zaha Hadid, Norman Foster und Jean Nouvel. Die ärmeren Viertel hingegen habe er verlottern lassen.

Eine Untersuchung der Ursachen des Einsturzes in der Rue d'Aubagne ist im Gang. Erste Hinweise deuten auf Wasser im Keller wegen undichter Kanalisation und lecker Dächer. Viele Häuser jenes Quartiers aus dem 18. und 19. Jahrhundert sind ohne solides Fundament gebaut. Die ebenfalls heruntergewirtschafteten Großsiedlungen aus der Nachkriegszeit hingegen haben andere Probleme. Dort sparen die Eigentümer oft am Unterhalt.

So profitieren manche Immobilienbesitzer von der Wohnungsknappheit in den Städten. "Marchands de sommeil" nennt man sie: Schlafspekulanten. Bei einer Inspektion in Paris wurden im letzten Jahr ein Dutzend als Wohnungen ausgegebene Nischen von weniger als sechs Quadratmetern für bis zu 480 Euro Mietpreis aufgespürt. Die Behörden kommen mit dem Kontrollieren gar nicht mehr nach. Dreizehn Prozent des Wohnparks von Marseille stellen laut einer Erhebung des französischen Wohnbauministeriums von 2015 ein Risiko für die Bewohner dar. In ganz Frankreich liegt der Anteil bei sechs Prozent.

Es kriselt in Frankreich an allen Ecken und Enden, wie die kaum abflauende Gelbwestenbewegung zeigt. Allerdings standen die Wohnungsprobleme nie im Mittelpunkt ihrer Forderungen. Dort, wo ihre Anhänger mehrheitlich leben, in den wirtschaftlich toten Winkeln des Landes, gibt es eher zu viel als zu wenig Raum.

Zwischen dem Wohnungsmangel in den Großstädten und dem Überangebot mit fallenden Quadratmeterpreisen in den sich leerenden Restgebieten besteht dennoch ein Zusammenhang. Die Erhöhung der Benzinsteuer war der Auslöser des Gelbwestenaufstands. Das Abgeschnittensein von der öffentlichen Infrastruktur muss in Frankreich mit dem privaten Benzintank bezahlt werden. Präsident Macron, der einem Arbeitslosen einmal ins Gesicht sagte, für einen Arbeitsplatz müsse er sich schon auf die andere Straßenseite bequemen, will die alteingesessene Bevölkerung seines Landes mit dem Steuerhebel mobil machen und in die Ballungsräume der regionalen Metropolen treiben. Etwas hat da mit der Raumplanung der letzten 50 Jahre nicht funktioniert.

Sieben Millionen Wohnungen wollte Macron sanieren. Jetzt sind es nur noch eineinhalb

40 Prozent macht aufgrund langer Wege zu Arbeit, Ämtern, Krankenhäusern und Schulen der Posten Treibstoff in den Energieausgaben der französischen Haushalte aus, fast so viel wie die Heizkosten, die im nach wie vor schlecht isolierten Immobilienpark Frankreichs nicht gerade niedrig sind. Mit durchschnittlich 2400 Euro liegt das jährliche Energiebudget somit für viele Haushalte an der Grenze des Tragbaren. Immer öfter ist von den Leuten zu hören, sie hätten die Zimmertemperatur auf deutlich unter 20 Grad heruntergedreht oder beheizten einzelne Zimmer gar nicht mehr.

Sieben Millionen dieser Wohnungen aus dem öffentlichen Bestand versprach Macron zu sanieren. Davon sind laut Regierungsplan nur noch eineinhalb Millionen geblieben. Zum ersten Mal seit sechs Jahren sind die Investitionen für Wohnbaurenovierung 2018 nicht mehr gestiegen. Beunruhigend ist für die Regierung aber vor allem der Rückgang des Wohnungsneubaus. Mit einem im Herbst verabschiedeten Gesetz sucht der Wohnbauminister Julien Denormandie die Dynamik wieder anzukurbeln. Steueranreize für den Verkauf von Baugelände und erleichterte Baugenehmigungen sollen die neuen Projekte beschleunigen.

Schnell hingeklotzte Wohnriegel

Das allerdings versetzt die Architekten in Alarmbereitschaft. Dass Sozialwohnbauprojekte künftig auch ohne architektonische Wettbewerbsausschreibungen möglich sind, sei ein Unding, protestiert der Architektenverband, denn gerade vom Sozialwohnbau seien in letzter Zeit interessante Anstöße ausgegangen.

Und tatsächlich: Blickt man auf das Spektrum an Projekten, das von Jean Nouvels "Nemausus" aus den Achtzigern in Nîmes bis zu Anne Lacatons und Jean-Philippe Vassals 2016 vollendetem Umbau einer Großsiedlung aus den Sechzigern in Bordeaux oder Bernard Bühlers neuem Sozialwohnkomplex in Paris reicht, ist da was dran. Der Verzicht auf Architekturwettbewerbe drohe Frankreich um 50 Jahre zurückzuwerfen, in eine Zeit, wo das schnelle Hinklotzen von Standardriegeln die Regel war, warnt Christian de Portzamparc.

Der Umzug ins Auto, ins Zelt oder auf die Parkbank ist schon zum literarischen Topos geworden

Mit der administrativen Vereinfachung des Sozialwohnbaus versucht die Regierung ein Problem zu lösen, das sie sich selber eingebrockt hat. Im Unterschied zu Deutschland wird der Sozialwohnbau in Frankreich hauptsächlich von öffentlichen Körperschaften getragen. Das System der öffentlich subventionierten HLM (Habitat à loyer modéré) geht aufs frühe 20. Jahrhundert zurück. Vor eineinhalb Jahren kürzte die Regierung für 6,5 Millionen Haushalte die Wohnungsbeihilfe um monatlich fünf Euro. Das war politisch desaströs und wirtschaftlich ein Unsinn. Um eine Mieterhöhung zu vermeiden, kompensierten die Sozialwohngenossenschaften die Finanzlücke durch ein verlangsamtes Neubauprogramm. Für das Vorhaben, die Wohnungsnot und die hohen Mieten durch einen Schock des Angebots zu bekämpfen, war das der Gnadenstoß.

150 000 neue Sozialwohnungen jährlich wollte schon der frühere Präsident François Hollande bauen lassen. Das Ziel wurde nie erreicht und die Entwicklung ist rückläufig. Sie liegt heute bei rund 10 000. Aus der Vorschrift, dass jede Gemeinde mindestens 20 Prozent Sozialwohnungen haben muss, ist ein löchriges Prinzip mit vielen Wenn und Aber geworden. Und der 2014 unternommene Versuch einer staatlich verordneten Mietpreisbindung ist gerichtlich gekippt worden.

Das führt dazu, dass laut dem jüngsten Bericht der Fondation Abbé Pierre in den unteren Bevölkerungsschichten 60 Prozent des Haushaltsbudgets fürs Wohnen draufgehen. In der Gesamtbevölkerung liegt der Anteil bei knapp 30 Prozent. Bleiben all jene, die schon gar kein Zuhause mehr haben. Der Umzug ins Auto, ins Zelt oder auf die Parkbank ist bei Virginie Despentes, Yannick Haenel und anderen schon zum literarischen Topos geworden.

Zehntausende leben laut dem erwähnten Bericht in Squats und in den um die Städte sich wieder ausbreitenden Elendsvierteln, den "Bidonvilles". Von den Migranten und sonstigen Personen ohne Ausweispapiere ganz zu schweigen, sie werden von den Statistiken gar nicht erfasst.

Ein vom New Yorker Programm "Pathways Housing First" inspirierter Plan, Armut von der Wohnungsnot her zu bekämpfen, hat in Frankreich bisher nicht funktioniert. Daran wird sich voraussichtlich nichts ändern. Denn es geht nun darum, die Wut der Gelbwesten zu besänftigen. Das sind eher Leute aus der unteren Mittelschicht, die sich an ihren gerade noch vorhandenen Lebensstandard klammern. Sie blicken mit Ressentiment auf jene über ihnen, mit einer Mischung aus Argwohn und Angst aber auch auf die Sozialfälle knapp unter ihnen.

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