Lyrik als Lebenshilfe in der Corona-Krise:Als würde eine Welle ins ausgetrocknete Leben fluten

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Einmal am Tag darf man in Frankreich derzeit für eine Stunde vor die Tür gehen. Im Bild: Ein Passant auf dem leeren Place Charles de Gaulle in Paris. (Foto: dpa)

Über die Wucht der Lyrik: Das Pariser Théâtre de la Ville bietet "poetische Konsultationen" - Schauspieler rufen an und tragen Gedichte vor. Ein bewegender Selbstversuch.

Von Nadia Pantel

Die Stimme von Mathias ist auffallend schön. Sie würde einen schon in normalen Zeiten leicht aus der Bahn werfen, aber jetzt, in der sozialen Dürre, wirkt ihre Kraft noch einmal doppelt. Mathias möchte wissen, wie es einem geht, er ruft an als "poetischer Berater". Seine Fragen klingen wie die eines Therapeuten, doch seine Stimme gehört auf die große Bühne, nicht ins Behandlungszimmer. Das Pariser Théâtre de la Ville hat sich die "Consultations poétiques" schon vor der Ausgangssperre ausgedacht. Vergangenen Winter bauten sie im Pariser 13. Arrondissement in Shoppingcenter, Bücherhalle und Bars kleine Klapptische auf und verschenkten literarische Erbauung. Für die Zeit der Corona-Ausgangssperre haben sie die Beratungen wieder aufgenommen. Lyrik als Lebenshilfe - wenn es schon kein Mittel gegen das Virus gibt, dann vielleicht eines gegen die sich einstellende Enge im Kopf. Man vereinbart auf der Website des Theaters einen Termin, dann rufen zur genannten Stunde eine Schauspielerin oder ein Schauspieler an.

Das Handy klingelt dann aber doch völlig unerwartet. Nachdem jedes Interview, jedes Treffen, jede Diskussionsrunde für die kommenden Wochen abgesagt wurde, fällt morgens auch der Blick in den Kalender weg. Was soll da schon drinstehen? An diesem Donnerstagvormittag zum Beispiel: "Poetische Beratung". Es ist elf Uhr, einmal am Tag darf man in Frankreich derzeit vor die Tür, nach einer Stunde muss man wieder zurück in die Wohnung. Ich habe mit meinem zweijährigen Sohn gerade den täglichen Spaziergang begonnen, als eine unbekannte Nummer auf dem Display erscheint. "Was machen Sie gerade", fragt Mathias. "Ich halte meinen Sohn davon ab, auf die Straße zu rennen. Und Sie?" Mathias ist zu Hause, so wie alle gerade im Land.

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Das Gespräch beginnt mit dem Abfragen der aktuellen Situation: Sind Sie nur isoliert oder schon einsam? Sind Sie nur gelangweilt oder schon verzweifelt? Und schließlich: Darf ich Ihnen ein Gedicht vorlesen?

Mathias wählt "Poésie Pour Pouvoir" von Henri Michaux aus und es fühlt sich an, als würde eine Welle ins ausgetrocknete Leben fluten. Eine Welle, von der nicht ganz klar ist, ob sie einen nun hochträgt und erhebt, oder ob sie nicht einfach nur alles in Unordnung bringt. Damit das eingesperrte Leben mit Kleinkind, Homeoffice und schlechten Nachrichten im Stundentakt gut funktioniert, sind die Gefühle schließlich ordentlich weggeräumt.

Mathias und Henri Michaux spülen sie wieder an die Oberfläche. "Je suis là, je te soutiens", spricht Mathias ins Telefon, ich bin da, ich unterstütze dich. Das literarische Ich, das literarische Du - ihre Grenzen verwischen, wenn sie einen so direkt aus dem Handy heraus ansprechen. Mathias' Stimme trägt Michaux' Verse von 1967 ins Frankreich der Ausgangssperre im Jahr 2020. Die Zeilen passen fast zu genau und gleichzeitig überhaupt nicht. "Den Albtraum, aus dem du verängstigt wiederkehrst, gibt es nicht mehr."

Gegen Ende des Gedichts wird Mathias von einem Hubschrauber und vom Schreien meines Sohnes übertönt. Das eine bedingt das andere. Mathias hört den Lärm, macht eine Pause und trägt schließlich noch die letzte Zeile vor: "J'ai lavé le visage de ton avenir", ich habe das Gesicht deiner Zukunft gewaschen.

Dabei hat sich "Zukunft" in den vergangenen Wochen nicht zu einem Lieblingswort entwickelt. Ob das Gedicht gefallen habe, will Mathias wissen und meine Stimme wird wacklig, als ich ihm erkläre, dass es eventuell etwas wuchtig auf das hilflose Klein-Klein geknallt ist, mit dem die Tage momentan so vergehen. "Das verstehe ich", sagt Mathias, "aber mir hilft diese Wucht."

Fangen die Leute oft an zu weinen, wenn er sie anruft? Ja, sagt Mathias, es würden sich "Türen öffnen". "Und wie kriegt man die wieder zu?", frage ich. Es soll ein Scherz sein. Wir hören beide, dass es keiner ist. Der Hubschrauber kommt zurück. "Mamaaaaa!" "Geben Sie mir doch mal Ihren Sohn", sagt Mathias.

Ich halte dem Kind das Handy ans Ohr. Es bekommt sein eigenes Gedicht. "Oui", sagt es am Ende leise. Mathias muss etwas gefragt haben. Was, bleibt geheim. Die Beratungen sind ein Zwiegespräch.

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