Frankfurter Buchmesse 2010:Das Meiste ist Müll

Jaron Lanier hat es im Internet-Theoriegeschäft schnell zum Status eines Gurus gebracht - und zum Stichwortgeber für Journalisten. Sein Buch "Gadget" taugt aber zu mehr als zur bloßen Zitatequelle.

Bernd Graff

Jaron Lanier ist einer der Schlauen im Computer- und Internet-Theoriegeschäft. Einer, der sich exponiert mit geschliffenen Worten, der eigene Ideen hat und keine Scheu besitzt, sie unverblümt zu äußern. Ein Diskutant mit und aus Leidenschaft. Das hat ihm in der Szene schnell den Status eines Gurus und in den Medien den des gern zitierten Darlings eingebracht. Denn Lanier nimmt man ab, dass er weiß, worüber er spricht. Und wenn er das dann in seinen immer schönen Worten tut, dann sind Journalisten dankbar, dass ihnen mal einer das Digitale vom Kopf auf die Füße stellt. So etwa machte Laniers Begriff: "Virtuelle Realität" ganz schnell die Runde. Süffig genug, etwas nicht Begriffenes wenigstens sprachlich als nicht Begriffenes zu fixieren.

Krähen über Rendsburger Hochbrücke

Schwarmintelligenz soll es sein, was im Netz entsteht - Lanier erkennt in der massenhaft vernetzten Kommunikation des Webs nur Geblöke und hält den dort zelebrierten Narzissmus lediglich für offen zur Schau gestelltes Mütchenkühlen des globalen Mobs.

(Foto: dpa)

Doch wäre es fatal, Lanier zu einem Stichwortgeber oder schneidigen Provokateur herabzustufen. Denn der Mann denkt wirklich nach. Und das auf einem Niveau und mit einer intellektuellen Tiefe, die ihn jenen Vielschwaflern und Schnellerklärern enthebt, die die Zukunft bereits mit dem Zaunpfahl winken sehen, wenn etwa ihr E-Mail-Programm ein Update erfahren hat.

Als Jaron Laniers Buch: "You are not a Gadget. A Manifesto" zu Beginn des Jahres in den USA erschien, wurde es nicht nur von den englischsprachigen Medien begierig aufgenommen und nach Degustationshäppchen durchkämmt, mit dem man die eigene Berichterstattung aufpeppen kann wie mit einer Modebrosche. Damit tut man Lanier - wie gesagt - unrecht, seinem Manifest auch. Es wird Mitte Oktober auf deutsch erscheinen, allerdings unter dem irreführenden Titel: "Gadget".

Lanier denkt Technik immer vom Menschen her, der mit ihr umgeht, oftmals umgehen muss, sie bedient oder sich von ihr bedienen lässt. Insofern hätte eine Personalisierung im Titel der deutschen Ausgabe nicht nur gut angestanden, sie wäre unabdingbar gewesen. Der erste Teil seines Buches ist bereits: "Was ist eine Person" überschrieben. Die zentrale Frage lautet dann: "Was, wenn nur Menschen wirklich sind, Informationen hingegen nicht?" Und darum seien "diese Worte für Menschen geschrieben, nicht für Computer. Ich möchte sagen: Man muss jemand sein, bevor man etwas mitzuteilen hat."

Den Status des selbstgewissen, souveränen Individuums, das authentisch kommuniziert, sieht Lanier indes gefährdet durch einen fatalen Gebrauch von digitaler Technik. Er erkennt in der massenhaft vernetzten Kommunikation des Webs nur Geblöke und hält den dort zelebrierten Narzissmus der Schwarmintelligenz (Hive Mind) lediglich für offen zur Schau gestelltes Mütchenkühlen des globalen Mobs. Das könnte Lanier nun einfach nur schnöselig behaupten und es dabei bewenden lassen.

Ein Plädoyer für einen neuen Gesellschaftsvertrag

Er fürchtet, dass die menschliche Kommunikation und der Umgang der Menschen miteinander von der allgemeinen Verflachung beschädigt werden: "Anonyme Blog-Kommentare, geschmacklose Video-Späße, und leichtgewichtige Musikverschnitte mögen trivial und harmlos erscheinen, doch insgesamt hat die fragmentierte, unpersönliche Kommunikation die zwischenmenschliche Interaktion entwertet." So stecke "im Internet viel weniger Information als die meisten annehmen. Das meiste ist Müll." Um dies zu begründen und dagegen ein Plädoyer für einen neuen Gesellschaftsvertrag zu halten, der die menschliche Kommunikation schützt und die Cyberwelt wieder auf angemessene Größe zurückstaucht, ist "Gadget" geschrieben worden. Und es ist mehr als ein Diskussionsbeitrag daraus geworden.

Tatsächlich schreibt Lanier gegen den "perversen Glauben" an, das Internet könne zum Superbrain der Menschheit werden, zu einer lebendigen Intelligenz, die sich aus den Mikro-Weisheiten der Vielen speist. Diesen Begriff der "Vielen" geißelt Lanier bereits auf den ersten Seiten. Denn die damit lediglich umschriebene Anonymität der Kommunikation verstärke negative Strukturen des Umgangs miteinander und deformiere das Selbstverständnis jedes einzelnen in einem Maße, für das es noch keine klaren Kategorien und adäquate Metaphern gebe. Dagegen setzt Lanier nahezu emphatisch auf einen neuen "digitalen Humanismus", also auf Individualität und Autorschaft, die indes im wuchernden Webmüll nicht nur nicht gefördert werden, sondern auch nicht gewollt seien.

Mit dem Verschwinden des jederzeit definierten, selbstbestimmten Einzelnen aber gehe einher: Verlust von Bedeutung und Bewusstsein, Verlust "gesunder finanzwirtschaftlicher Grundsätze", Beliebigkeit, das Aufkommen einer nostalgischen Kultur, die nicht mehr innovativ ist, sondern nur noch reagiert im Remix des Alten. Am schlimmsten jedoch sei das Sich-Abfinden mit den Gegebenheiten, unter denen der Mensch verschwindet: Anonymität, Nicht-Lokalisierbarkeit und Abstraktion der Kommunikationspartner. Kaum minder verachtenswert: Das Diktat von Software und Webdesign. Man bediene - im Wortsinn! - Computer und Medien nach deren, nicht nach selbstgesetzten Regeln. In beidem erkennt Lanier Ursachen für jene Abwärtsspirale, die er als "lock-in" bezeichnet. Gemeint ist damit ein prozessualer Stillstand, der nicht Zukunft befördert, sondern vielmehr auf der Anwenderseite das Schlechteste im Menschen zu Tage fördert. Der anti-individualistische Apparat lässt Meutekunst entstehen.

Am Ende sind es immer Menschen

Lanier ist wegen dieser Volte als Maschinenstürmer angegriffen und beschimpft worden. Er verwahrt sich: Es handele sich gar nicht um "einen Wettstreit zwischen Maschinenstürmern (Wer? Ich?) und der Zukunft. Aber es gibt mehr als eine mögliche technologische Zukunft." Derzeit gibt es für Lanier nur einen Befund: Das wilde Denken, die genuine Leistung, die individuelle Stimme, das authentische Sprechen verschwinden. Es dominiert, was mit Werbung versehen werden kann und sich im Mainstream vermarkten lässt. Willkommen in Retropolis! So nennt Lanier diese Zivilisations-Ruine. Er hat sich mit all dem nicht nur Freunde gemacht, versteht sich.

Nun kann man sich allerdings fragen: Ist es denn wirklich so schlimm? Es gibt doch, diesseits von Digitalien, in den westlich aufgeklärten Zivilisationen immer schon bildungsfernen und -resistenten White Trash, dessen kulturelles Dazutun sich im Mitsingen von Karnevalsliedern erschöpft. Davon geht die Welt doch aber schon lange nicht unter. Was also ist wirklich so schlimm am Hive Mind, das Lanier am liebsten töten möchte? Das eine Netz gibt es doch sowieso nicht, und wenn sich Menschen austauschen wollen, authentisch, individualistisch, meinungsstark, dann tun sie es. Auch im Netz. Lanier ist durchaus elitär, das weiß er.

Doch seine Eliten kommen ja vor im Netz. Die Krux seines Ansatzes ist wohl, dass er den nivellierenden Einfluss des Mediums auf die intellektuellen und kulturschaffenden Fähigkeiten seiner Klientel über-, deren Urteilsvermögen indes unterschätzt. Sicher, man muss ein neues Medium nicht gleich für den Heiligen Gral halten. Aber so grundsätzlich in Zweifel ziehen muss man es auch nicht. Denn am Ende sind es immer Menschen, die miteinander verhandeln, reden, sich verlieben, streiten - und mag es jetzt auch im Netz sein.

Jaron Lanier, Gadget. Warum uns die Zukunft noch braucht. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 247Seiten, 19,90 Euro.

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