Süddeutsche Zeitung

Frankfurter Buchmesse:Auf dem Nirwana-Sprung

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Clemens J. Setz liest auf dem Kritikerempfang des Suhrkamp-Verlags aus seinem noch unveröffentlichten Roman "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" - und entschuldigt sich für Migräne. Mancher Kritiker kommt sich vor wie ein Avatar seiner selbst.

Von Christopher Schmidt, Frankfurt

Hochamt mit Häppchen - das ist der traditionelle Kritikerempfang des Suhrkamp- Verlages im Siegfried-Unseld-Haus. An einem Mittwoch vor fünfundfünfzig Jahren kam man hier erstmals zusammen, wie Ulla Unseld-Berkéwicz nicht ohne Stolz zur Begrüßung erklärt, bevor sie die Namen der anwesenden Suhrkamp-Autoren nennt - eine hochmögende Phalanx, zu der auch wie selbstverständlich der gerade gekürte Buchpreisträger 2014, Lutz Seiler, gehört. Wie in jedem Jahr begann der Abend mit der Lesung eines Suhrkamp-Autors aus einem noch unveröffentlichten Werk.

Diesmal nahm Clemens Setz, dunkel und schmal, am Lesetisch Platz, trug eine Passage aus seinem Roman "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" vor und entschuldigte sich zunächst, er leide unter Migräne, was bisweilen zu Gesichtsfeldausfällen führe, und dazu, dass ihm auch Fremde wie alte Bekannte vorkämen.

Gesichtsfeldausfälle und verschwommene Bekanntheitsgefühle gab es auch unter jenen Gästen, die sich nicht auf eine Migräne berufen können. Man weiß ja nie, mit wem man wo schon über was gesprochen hat, die Themen wiederholen sich schließlich: Es geht um die neuesten Quoten der Buchmacher in Sachen Nobelpreis, die Frage, ob Lutz Seilers preisgekrönter Roman "Kruso" ab Seite 250 noch lesenswert ist oder ob der Rücktritt der Kritikerin Daniela Strigl aus der Jury für den Ingeborg-Bachmann-Preis eine souveräne Geste war oder ob nicht doch ein Stück austriakischer Theatralik in diesem Abgang liege.

Virtuelles Zweit-Ich

Und es geht immer wieder um die Zeitungskrise, Pardon, den medialen Wandel. Irgendwie kommt sich jeder an diesem rituellen Abend mit immergleichen Darstellern vor wie ein Avatar seiner selbst, denn ohne solch ein virtuelles Zweit-Ich, so Clemens Setz in seinem Textauszug, gehe es nicht. Im Roman nennt er das Phänomen Juan, wobei sich versteht, dass auch Juan einen Juan braucht, jeder Avatar seinen eigenen Avatar und immer so weiter. Damit wären wir dann schon bald beim "Nirwana-Sprung", den Setz so schräg wie leichtfüßig mit der Chaostheorie verbindet, und der Geschichte der einundzwanzigjährigen Natalie, von der sein Roman erzählt.

Natalie ist Betreuerin für Behinderte und teilt sich mit zwei anderen zwei Planstellen, arbeitet also genau 66,6 Prozent mit Annäherung ans Unendliche - so verlängert Setz prekäre Arbeitsverhältnisse ins Metaphysische. Natalie lebt in einem Haus, in dessen Innenhof ein Nussbaum steht, der aussieht, als wäre ihm seine Brille ins Gras gefallen. Schwer zu sagen, wie man sich das vorzustellen hat. Spielt aber auch keine Rolle. Es geht dann noch um den leichten Schauer profaner Epiphanien in Natalies Wohnung, um auberginenförmige Kaiserpinguine als Wandschmuck, den "Inzestgeruch" zu selten gewechselter Wäsche und eine Kühle, die von den Küchenfliesen aufsteigt und sich anfühlt wie das Wort "getüncht". Und nicht zu vergessen um Zehen, die unter der Bettdecke hervorlugen als erste "Wachbojen" des neuen Tages.

Ein Mikrokosmos wird hier durchmessen, dessen Abgründe meist in eine zarte Pointe plumpsen. Gerade mal zehn Minuten hält Clemens Setz seine Zuhörer von Speisen und Getränken ab, und bevor der Botanik vor den Suhrkamp-Fenstern die Brille ins Gras fällt, sind die Kritiker und Kritikerinnen sowieso schon wieder unterwegs zum nächsten Messe-Fest, auf dem Nirwana-Sprung, wenn man so will. Bildlich gesprochen war's nur eine gefühlte Stunde zwischen Frau Unseld-Berkéwicz und sämtlichen Gitarren von Frankfurt. Denn die letzten Wachbojen der Buchmesse, sie werden morgen garantiert wieder die ersten sein.

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Quelle:
SZ vom 10.10.2014
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