Süddeutsche Zeitung

Frankfurter Buchmesse:Wunder fallen nicht vom Himmel

Die Frankfurter Buchmesse ist aufgrund von Corona in die Datenwolke verlegt, Lesungen finden virtuell statt, auch der Austausch von Ausstellern und Besuchern. Hilft der Digitalisierungsschub der Branche?

Von Lothar Müller

Lesen ist Kommunikation unter Abwesenden. Wer ein Buch aufschlägt, tut dies in aller Regel nicht in Gegenwart des Autors. Buchmessen sind demgegenüber geballte Anwesenheit. Alle während der Lektüre nur virtuell Anwesenden treten aus dem Buch heraus, bevölkern die Messehallen, zirkulieren durch die Gänge, durch die Veranstaltungsorte in der Stadt, die Hotelbars. Sie kommen aus den Verlagsspitzen, dem Management, den Lizenzabteilungen, Pressebüros und aus dem Vertrieb, aus den Literaturagenturen, den Literaturhäusern, von den Schreibtischen, an denen die Übersetzungen entstanden sind, die an den Ständen ausliegen.

Die Frankfurter Buchmesse ist der internationale Verdichtungspunkt der Anwesenheitsseite der Literatur. An diesem Dienstagabend wird sie in der Festhalle am Messegelände eröffnet, ohne Publikum. Ursprünglich dachte man noch, eine stark ausgedünnte, angemeldete Besucherzahl bei den wenigen verbliebenen Live-Veranstaltungen der Messe zulassen zu können. Wegen der aktuell gestiegenen Corona-Zahlen geht, wie am Montag bekannt wurde, nicht einmal das. Damit ist klar, dass es richtig war, die Buchmesse als Präsenzmesse abzusagen. Und zugleich wird in den kommenden Tagen offenbar werden, dass die "Special Edition", die an ihre Stelle tritt, trotz ihres munteren Titels allenfalls ein Surrogat sein kann. Ja, es wird trotzdem eine Reihe realer Lesungen geben bei den "Open Books" in der Stadt wie bei der ARD-Buchmessenbühne in der Festhalle. Und es wird virtuelle Plattformen geben, auf denen sich Aussteller aus aller Welt austauschen können. Aber sichtbar wird vor allem werden, wie sehr eine Messe unter der physischen Abwesenheit der großen Mehrheit ihrer Teilnehmer leidet.

Die Corona-Krise ist für alle Branchen eine Prüfung. Die Buchbranche trifft sie asymmetrisch. Die Frankfurter Buchmesse ist das Symbol dafür, wie sehr die Krise ihre Anwesenheitsformate trifft. Die jüngst veröffentlichten Buchmarktzahlen zeigen, dass sich das Kerngeschäft seit dem Lockdown im März stabilisiert hat. Im Zeitraum von Mai bis September lag der Umsatz um etwa vier Prozent höher als 2019, die Belletristik war daran entscheidend beteiligt, mehr noch die Kinder- und Jugendliteratur. Dass die Reisebücher starke Einbußen erlitten, war kein Wunder, aber auch Sachbücher und Ratgeber waren im Plus.

Die Frankfurter Buchmesse ist traditionell das Entree in das wichtigste, auf das Weihnachtsgeschäft orientierte Buchhandelsquartal. Wer derzeit mit Verlegern spricht, trifft trotz der Verschiebungen oder Streichungen von Buchprojekten im Frühjahr auf eine Stimmung, die man verhaltenen Optimismus nennen könnte. Die Einbrüche aus dem Lockdown sind noch nicht aufgeholt, nach wie vor liegen die Buchhandlungen im Durchschnitt etwa neun Prozent unter dem Vorjahr, aber der Titel der digitalen Plattform der Buchmesse, "Signale der Hoffnung", ist branchentypisch. "Ein kleines Lesewunder" hat der Hanser-Verleger Jo Lendle erlebt und erwartet für sein Literatur- und Sachbuchprogramm "ein historisch starkes Jahr".

Im Lockdown hat sich erwiesen, "dass der Buchhandel sehr treue Kunden hat"

Die Buchbranche ist ein Riese im Kulturbetrieb. Im Jahr 2019 erreichte sie einen Umsatz von 9,29 Milliarden Euro, nach wie vor mehr als Filmwirtschaft, Musikindustrie und Computerspielbranche zusammen. Lesewunder aber fallen nicht vom Himmel. Es reicht nicht, dass im Lockdown irgendwer innere Einkehr und intensive Lektüre empfiehlt, es müssen prosaische Routinen der Buchzirkulation stabil bleiben, Vertriebsroutinen, Lieferketten.

Es ist kein Zufall, dass Susanne Schüssler vom Wagenbach-Verlag, nach den Zukunftsaussichten befragt, sogleich ein Loblied auf "Flexibilität, Witz und Engagement" des unabhängigen Buchhandels singt. In der Tat schlug im Lockdown, der auch Buchläden zur zeitweiligen Schließung zwang, nicht einfach die Stunde der Großen im Onlinehandel. Es war eher die Stunde der inhabergeführten Buchhandlungen um die Ecke, und eben auch nicht die der Ketten in den Fußgängerpassagen. Zumal als Amazon im März die Bestellung von Produkten aussetzte, die nicht so viel nachgefragt wurden wie Sanitärartikel, also auch für Bücher, und deren Zustellungsfristen verlängerte. Für den stationären Buchhandel kann das Buch aber kein nachrangiges Produkt sein. Also ließ er sich eine Menge einfallen, und wenn insgesamt gilt, dass die Corona-Krise als Digitalisierungsschub wirkt, so auch hier. Am erfolgreichsten funktioniert das in der Koppelung mit dem physischen Standort Buchhandlung und ihrem Personal. Man könnte das die Digitalisierung des Konzepts Stammkundschaft nennen.

Zum Fazit der letzten sechs Monate von Nicola Bartels, der neuen Rowohlt-Verlegerin, gehört, "dass der Buchhandel sehr treue Kunden hat", insgesamt aber sieht sie die Lage ambivalent, mag von "business as usual" nicht sprechen. Das hat mit der Asymmetrie der Corona-Effekte zu tun. Auch bei Rowohlt steigen die Umsätze wieder, gerade haben die Holtzbrinck-Verlage das gemeinsame Veranstaltungsportal textouren.de eröffnet, "aber dennoch sind virtuelle Lesungen am Ende kein Ersatz für Lesungen und Lesereisen". Aus Autorenperspektive gilt das umso mehr. Die Verlage, sagt Sabine Dörlemann, Leiterin des Dörlemann-Verlags in Zürich, können die Ausfälle, die Autoren durch abgesagte Lesungen entstehen, nicht kompensieren. Christian Ruzicska, Leiter des Secession-Verlags in Berlin, hat auf den Gastauftritt Kanadas bei der Buchmesse gesetzt, mit vier Titeln, nicht eben wenig für seinen kleinen Verlag: "Sämtliche Marketing-Strategien, für die wir auch mit der Anwesenheit der Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Frankfurt und auf Lesereisen im deutschsprachigen Raum rechnen durften, können jetzt nicht umgesetzt werden."

Der israelische Autor David Grossman wird die Buchmesse eröffnen, aber er wird von Jerusalem aus zugeschaltet sein. Mag sein, dass in den digitalen Räumen auch in diesem Jahr eine internationale Frankfurter Buchmesse stattfindet. Die Veranstalter tun jedenfalls alles, um den Eindruck zu erwecken, die Special Edition werde wie stets "in Frankfurt und der ganzen Welt" stattfinden. Aber ein im physischen Raum über Kontinente verstreutes Publikum ist etwas anderes als ein Massenpublikum in einer Messehalle. Und die Kaschierung der Anwesenheitsverluste ist riskant.

Direkt gegenüber dem Messegelände befindet sich der Hessische Hof, das legendäre Hauptquartier zumal der amerikanischen Verleger und Agenten, die zum Verhandeln nach Frankfurt kamen. Das Grandhotel wird, wie Ende September bekannt gegeben, geschlossen. Es steht für den Stresstest, dem die Frankfurter Buchmesse ausgesetzt ist. Sie hat sich in den vergangenen Jahren verstärkt als großes Branchenfest und Publikumsereignis inszeniert, zugleich aber auf ihrem Markenkern beharrt, auf dem Handel mit Rechten und Lizenzen. In der diesjährigen Special Edition können die internationalen und heimischen Verlage testen, wie gut der Rechtehandel, der ohnehin nicht auf die Tage in Frankfurt beschränkt ist, auf den von der Messe entwickelten digitalen Plattformen oder in unmittelbarer Fernkommunikation funktioniert. Nicht unwahrscheinlich, dass sie, wenn im kommenden Jahr wieder Präsenzmesse sein kann, geschrumpft sein wird. Für die Verlage ist die Buchmesse als Präsenzmesse nicht zuletzt ein Kostenfaktor, nicht nur wegen der Stand-, sondern auch wegen der Hotelkosten. Wie groß muss, wie klein darf die Delegation sein, die nach Frankfurt fährt? Wir machen aus der Not eine Tugend, wir erfinden uns neu, sagt der Titel Special Edition. Aus der Not führt er die Frankfurter Buchmesse nicht heraus, auch wenn die Branche insgesamt eher optimistisch wirkt.

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Quelle:
SZ vom 13.10.2020
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