Frankfurter Buchmesse 2010:Als die Wall Street überschnappte

Sie gelten als das Böse schlechthin, doch für Michael Lewis sind Spekulanten, die auf das Eintreten schlimmer Ereignisse wetten, Helden. In "The Big Short" erzählt er von skurrilen Einzelgängern, die sich gegen die breite Masse an der Wall Street stellten.

Nikolaus Piper

Spekulanten gelten, besonders in Deutschland, als die Bösen schlechthin: Sie lösten die Finanzkrise aus, sie haben Griechenland auf dem Gewissen und hätten fast den Euro hingerichtet. Für den amerikanischen Finanzjournalisten Michael Lewis sind Spekulanten, genauer: solche, die auf das Eintreten schlimmer Ereignisse wetten, dagegen Helden. In seinem neuen Buch The Big Short setzt er ihnen ein Denkmal. Er erzählt die Geschichte einer Reihe skurriler Einzelgänger, die die Finanzkrise kommen sahen. Sie sind alles andere als Wohltäter, sondern wollten Geld verdienen. Aber sie hatten den Mut, sich gegen die breite Masse an der Wall Street zu stellen, auch als dies unbequem war.

John Strazza

"The Big Short" ist in den USA ein Bestseller; die Spekulanten (das Foto zeigt zwei Börsenmakler in New York), über die er schreibt, genießen dort den Ruf von Popstars. Und Michael Lewis weiß, worüber er schreibt.

(Foto: AP)

Michael Lewis weiß, worüber er schreibt. Er heuerte nach dem Studium 1985 bei Salomon Brothers an, damals der aggressivsten Investmentbank an der Wall Street (sie gehört heute zur Citigroup). Nach drei Jahren kündigte er und schrieb über die Praktiken der Bank sein erstes Buch: Liar's Poker (deutsch: Wall Street Poker). Seither sind die Absurditäten der Finanzmärkte sein Thema.

The Big Short ist in den USA ein Bestseller; die Spekulanten, über die er schreibt, genießen den Ruf von Popstars. Der Titel, den der Verlag zu Recht in der deutschen Ausgabe beibehalten hat, bedarf der Erklärung. "To short" bedeutet: "auf den sinkenden Kurs eines Wertpapiers setzen". Man kann eine Aktie dadurch shorten, dass man sie "leer" verkauft: Der Spekulant leiht sich das Papier und verkauft es zum gegenwärtigen Kurs in der Erwartung, dass er es später billiger zurückgeben kann. Eine Anleihe lässt sich shorten, indem man darauf wettet, dass der Emittent zahlungsunfähig wird. Dazu verwendet man ein Instrument, das in der Krise traurige Berühmtheit erlangte: Credit Default Swaps (CDS), auf Deutsch: verbriefte Kreditausfallversicherungen. Und damit fängt die Geschichte des Big Short an.

Steve Eismann zeichnet sich durch einen ausgesprochenen Mangel an Sozialkompetenz aus. Seinen ersten Job als Analyst bei der Finanzfirma Oppenheimer verdankt er der Vermittlung seiner Eltern. Er erwirbt dort einen Ruf als Rüpel, der Kollegen und Geschäftspartner vor den Kopf stößt. Seine Frau behauptet: "Er ist nicht aus taktischen Gründen ungezogen, er ist aufrichtig ungezogen. Er lebt in seinem eigenen Kopf."

Bei Oppenheimer muss Eisman Anleihen bewerten, die durch "Subprime"-Hypotheken gedeckt sind - zweitklassige Kredite an Hausbesitzer mit niedrigem Einkommen. Er entdeckt, dass viel mehr Schuldner mit Zins und Tilgung im Rückstand sind, als die Verkäufer der Anleihen zugeben. Eisman schreibt genau dies in einem Analystenbericht, ohne die betroffenen Firmen vorab zu unterrichten - ein klarer Verstoß gegen die guten Sitten. Entsprechend wütend sind die Reaktionen, was aber Eisman nicht im Mindesten stört.

Er will seine Analysen nicht nur veröffentlichen, sondern auch Geld mit ihnen verdienen. Daher wechselt er zu Front Point, einem Hedgefonds, der von der Investmentbank Morgan Stanley betrieben wird. Eisman scheint der einzige Mensch in Manhattan zu sein, der sich die Mühe macht, das Kleingedruckte bei Finanzprodukten zu lesen. Inzwischen werden die Kredite in noch komplexere, noch undurchsichtigere Produkte verpackt: "Collateralized Debt Obligations" (CDO). Auch viele Bankvorstände wissen nicht, was ein CDO eigentlich ist. "Der ganze Sinn der CDO war es, die Risiken schlechter Hypothekenkredite zu waschen, die die Firmen nicht offen und direkt verkaufen konnten", schreibt Lewis. Eisman bleibt stur: Er analysiert die faulen Kredite, die hinter den CDO stehen und wettet gegen sie. So macht er in der Krise ein kleines Vermögen.

Er will Geld verdienen

Auch Michael Burry gehört zu den Exzentrikern, die die Katastrophe voraussahen. Der Hedgefonds-Manager ist eindeutig noch weniger kommunikationsfähig als Eisman. Er leidet unter dem Asperger-Syndrom, einer besonderen Form des Autismus. Das Syndrom äußert sich unter anderem dadurch, dass die Betroffenen nonverbale Signale anderer Menschen nicht wahrnehmen, also alles, was durch Gestik und Mimik vermittelt wird. Dafür sind viele unter ihnen Mathematik-Genies und können sich ungewöhnlich lange auf komplexe Aufgaben konzentrieren. Burrys Erfolg liegt darin, dass er mit Akribie genau die faulen Kredite herausfindet, die er danach shorten kann.

Noch jede Spekulationsblase ist irgendwann geplatzt

Aus heutiger Sicht ist es fast unglaublich, wie lange Eisman und die anderen Exzentriker mit ihren Ansichten alleine blieben. Noch Anfang 2007, als die Häuserpreise längst fielen, drohten Burry die Investoren davon zu laufen. Er hätte seinen Fonds schließen müssen, wäre die Krise nicht im Sommer 2007 offen ausgebrochen. "Die Märkte können länger verrücktspielen als du zahlungsfähig bist", soll der Ökonom John Maynard Keynes einmal gesagt haben. Die Aussage lässt sich etwas präziser so formulieren: Finanzmärkte korrigieren sich zwar immer, noch jede Spekulationsblase ist irgendwann geplatzt. Aber die Phase des irrationalen Überschwangs dauert manchmal so lange, dass der anschließende Zusammenbruch mörderisch wird. "Es ist nicht einfach, sich gegen eine Massenhysterie zu stellen, ohne für verrückt erklärt zu werden", schreibt Lewis.

Viele Geldmanager haben oft ein klares Eigeninteresse daran, Spekulationswellen zu Ende zu reiten, selbst wenn sie wissen, dass dieses Ende fürchterlich wird. Man kann sich vor Chefs und Kunden leichter rechtfertigen, wenn man mit der ganzen Branche untergeht, als wenn man als einziger Spekulationsgewinne auslässt. Hypothekenanleihen wurden für teures Geld weiter verkauft, selbst als die schlechten Nachrichten von den Immobilienmärkten längst in der Zeitung standen. Die CDO-Händler bei Goldman Sachs, der Deutschen Bank und Merrill Lynch wollten so lange wie nur irgend möglich im Geschäft bleiben, wie Lewis eindrücklich schildert.

Oft ist auch böse Absicht im Spiel. Viele Schuldner wurden schlicht betrogen. Lewis berichtet von einem Produkt namens "100-Prozent-Kredit mit variablem Zins und negativer Amortisation", ein Darlehen, bei dem der Schuldner den kompletten Kaufpreis fremdfinanziert und eine Zeit lang weder Zins noch Tilgung zahlt. Nur jemand, der die Zusammenhänge nicht versteht, lässt sich auf einen Kredit ein, bei dem die Schuldsumme von Monat zu Monat steigt und die Zwangsversteigerung programmiert ist. Einem mexikanischen Saisonarbeiter mit 13 000 Dollar Jahresgehalt finanzierte eine kalifornische Bank ein Haus im Wert von 743 000 Dollar. Im Nachhinein springt der Wahnsinn jedem Laien ins Auge - aber es bedurfte Besessener wie Burry oder Eisman, um derartige Darlehen hinter den Anleihen zu entdecken.

Zum Teil sind die Banken auf die Komplexität ihrer eigenen Produkte hereingefallen. Sie glaubten, Risiken seien immer kalkulierbar und blendeten aus, dass es völlig unerwartete Ereignisse gibt. Aus einem Bündel von Hauskrediten zweifelhafter Qualität wurde plötzlich eine Hypothekenanleihe gebastelt, die als so sicher gehandelt wurde wie US-Staatspapiere. Die Bastler hatten einfach die Möglichkeit ausgeschlossen, dass die Immobilienpreise in den ganzen USA auf breiter Front einbrechen, weil es das seit der Weltwirtschaftskrise nicht mehr gegeben hatte. Und viele Investoren waren oft einfach inkompetent, wie jene deutschen Banken, die im letzten Moment noch in den CDO-Markt einstiegen. "Immer wenn irgendwo etwas schief geht, stößt du auf eine dumme deutsche Bank", heißt es an der Wall Street.

"The Big Short" erzählt die Geschichte dieses Irrsinns. Das Buch ist hervorragend recherchiert und leicht lesbar, Pflichtlektüre für jeden, der über Wirtschaftsfragen mitreden will. Einige Helden des Buches sind schon wieder aktiv. Steve Eismann kündigte an, er werde die Anbieter von Studentendarlehen shorten. Er tat dies auf so rüde Weise, dass Morgan Stanley sich jetzt von Eismanns Hedgefonds Front Point trennt. Kunden der Bank sollen sich beschwert haben.

Michael Lewis, The Big Short. Wie eine Handvoll Trader die Welt verzockte. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff, Petra Pyka und Birgit Schöbitz. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2010. 319 Seiten, 24,90 Euro.

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