Frank Schirrmacher: Payback:Die Ich-Erschöpfung

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Wenn der Kopf im Internet nicht mehr mitkommt: Frank Schirrmachers Buch "Payback" bringt die digitale Debatte zwar auf den neuesten Stand, aber nicht weiter.

Andrian Kreye

Es gibt in der industrialisierten Welt kein Land, in dem die Debatte um den Einfluss des Internets auf die Gesellschaft mit so vielen dogmatischen Verkrustungen und ideologischen Verschärfungen geführt wird, wie in Deutschland. Die digitale Kluft, die sich durch unser Land zieht, verläuft meist entlang der Generationengrenze zwischen "Digital Natives" und "Digital Immigrants", also zwischen jenen, die mit dem Internet aufgewachsen sind, und jenen, die den digitalen Technologien erst als Erwachsene begegneten.

Schirrmachers Stärke ist es, den intellektuellen Wissensdurst mit den Jagdinstinkten eines Boulevardjournalisten zu verbinden. (Foto: Foto: dpa)

Dabei ist das Thema längst größer als der knickrige Streit um alte und neue Mediengewohnheiten und Urheberrechtsfragen oder die politische Panikmache vor Amokspielen und Kinderpornos, auf die die digitalen Debatten in Deutschland meist hinauslaufen. Das neue Buch des FAZ-Herausgebers und Feuilletonisten Frank Schirrmacher "Payback" (Blessing Verlag München, 2009, 240 Seiten, 17,95 Euro) erweitert die Debatte nun endlich um kluge Gedanken. Auch wenn der Untertitel "Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen" zunächst nach der üblichen Mischung aus Kulturpessimismus und Selbsthilfe klingt.

Unterschätzen darf man den Untertitel nicht. Schirrmachers publizistische Stärke ist es, den intellektuellen Wissensdurst eines Universalgelehrten mit den Jagdinstinkten eines Boulevardjournalisten zu verbinden. Das macht den Konkurrenzkampf mit ihm so sportlich und seine Bücher und Debattenanstöße zu Punktlandungen im Zeitgeist. Dass er dabei oft mit Ängsten spielt, wie der Angst vor der Überalterung der Gesellschaft in seinem Bestseller "Das Methusalem-Komplott" oder der Furcht vor der sozialen Entwurzelung in "Minimum", ist seinem Boulevard-Instinkt geschuldet, der solche Ängste schon früh aufspüren und in einen Kontext setzen kann.

Druck der sozialen Verpflichtungen

Auch "Payback" verkauft sich als Begleitbuch zu aktuellen Ängsten. Schirrmacher greift jenes Gefühl der digitalen Überforderung auf, das sich nicht nur in Deutschland, sondern in allen digitalisierten Ländern breitmacht. Denn die Siegeszüge dreier digitaler Technologien haben in den vergangenen beiden Jahren die Grenzen der digitalen Aufnahmebereitschaft ausgereizt.

Da war zunächst das iPhone mit seinen inzwischen rund 20000 "Apps" - Programmen, die aus dem Apple-Handy einen Supercomputer machen. Dann erhöhte die Netzwerkseite Facebook den Druck der sozialen Verpflichtungen im Netz ins Unermessliche. Und schließlich öffnete der Kurznachrichtendienst Twitter die Schleusen für eine Informationsflut, die sich nur noch mit einer Palette von Hilfsprogrammen bewältigen lässt. Längst gibt es in Europa und Amerika unzählige Artikel und Bücher, die diese Überforderung thematisieren.

"Mein Kopf kommt nicht mehr mit", heißt auch das erste Kapitel von "Payback". Da beschreibt Schirrmacher, stellvertretend für viele, seine ganz persönliche kognitive Krise, in die ihn die digitalen Datenmengen gestürzt haben. Wie ein Fluglotse fühle er sich, immer bemüht, einen Zusammenstoß zu vermeiden, immer in Sorge, das Entscheidende übersehen zu haben. Mehr als ein Lassowurf ist dieser Einstieg nicht, denn letztlich führt er über den Identifikationsmoment nur in den ersten der beiden Teile des Buches ein. Und da geht es um mehr.

Lesen Sie auf Seite 2, wie es im zweiten Teil von "Payback" weitergeht.

Um viel mehr: Das Denken, die Gesellschaft, die Theorie, der freie Wille und letztlich das Menschenbild verändern sich unter dem digitalen Druck des immer intelligenter ausufernden Netzwerks. Der Neurologe Gary Small wird mit seiner Studie zitiert, die nachweist, dass Computer das Hirn nicht nur psychologisch, sondern auch neurologisch verändern können. Der Wandel von einem linearen Denkprozess über Ursache und Wirkung zu einem vernetzten Denken über Korrelationen wird beschrieben. Da werden die Herausforderungen an eine Gesellschaft in den Raum gestellt, deren Mitglieder es immer schwerer haben, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden. Der Psychologe Gerd Gigerenzer kann die Veränderungen neuer Werkzeuge auf die Theorien des Menschen nachzeichnen.

Im zweiten Teil sucht "Payback" nach Lösungen, um aus der kognitiven Krise auszubrechen, und vor allem, um den freien Willen und den Humanismus zu retten. Da wird das Buch zum Aufruf, eine aktive Rolle in der digitalen Entwicklung zu übernehmen. Der zwanghafte Zustand, ständig zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen zu entscheiden, den der Kognitionspsychologe Roy Baumeister "Ich-Erschöpfung" nennt, sei ein Alarmsignal, um die Informationen wieder dem Hirn unterzuordnen und nicht umgekehrt. Nur so können die digitalen Technologien ihre befreiende Wirkung entwickeln, in der die Speicherung des Wissens den Maschinen überlassen wird und das menschliche Denken einen so revolutionären wie evolutionären Schritt nach vorne tun kann.

Tweeds oder Tweets?

Das mag nicht neu sein. Doch "Payback" funktioniert ähnlich wie die Ideenbücher amerikanischer Autoren wie Malcolm Gladwell oder Chris Anderson. Die bringen Fluten existierender Studien, Artikel und Ideen in einen erzählerischen Fluss ein, der ein komplexes Phänomen für ein gebildetes Massenpublikum verständlich macht. "Payback" ist so vor allem ein Grundsatztext über das Denken und die Ideengeschichte im digitalen Zeitalter. Was man dem Buch vorwerfen kann, ist höchstens, dass es die digitale Debatte in Deutschland zwar auf den neuesten Stand, aber nicht weiterbringt.

Es sind winzige Details, mit denen das Buch die Chance verspielt, die verhärteten Fronten aufzuweichen und die digitale Kluft in Deutschland zu überwinden. Ein einziger Buchstabe bringt das Buch schon im zweiten Satz zum Schlingern. Da zählt Schirrmacher auf, was ihn so plagt: "SMS, E-Mails, Feeds, Tweeds..."

Mit dieser Verwechslung eines einzigen Buchstabens - weil sicherlich die Kurznachrichten von Twitter gemeint sind, die sich "Tweets" buchstabieren, und nicht der Stoff, aus dem die Uniformjacken deutscher Studienräte geschneidert sind - verliert der Text den Respekt jener "Digital Natives", die in dem Buch durchaus Material finden würden, um die Debatten hierzulande zu bereichern. Da wirkt der eine falsche Buchstabe wie ein einziges falsch gesetztes Zeichen, das hunderttausende Zeilen Code lahmlegt.

Der kleinste gemeinsame Nenner

Dabei ist Frank Schirrmacher keineswegs ein digitaler Außenseiter. Im Onlinemagazin Edge.org begegnet er digitalen Vordenkern wie George Dyson, Jaron Lanier und David Gelernter auf Augenhöhe. Man merkt auch seinem Text an, dass ihm die Grenzen der linearen Erzählform längst zu eng geworden sind, dass Klammern, Einschübe und Fußnoten die Thesengebäude gerade noch zusammenhalten können, bevor die vernetzten Gedanken die Buchform sprengen.

Ohne den Respekt der "Natives" wird "Payback" die digitale Kluft, die sich durch Deutschland zieht, jedoch nicht überbrücken. Auch der Spagat, den Schirrmacher zwischen seinem kulturpessimistischen Ansatz und seiner eigenen Zukunftseuphorie macht, ist letztlich zu weit. Zu oft versichert er: "Dies ist kein Pamphlet gegen Computer."

Die Frage bleibt - lässt sich die digitale Kluft überhaupt schließen? Widersprechen sich das lineare und das vernetzte Denken nicht so sehr, dass sie keine gemeinsame Ebene finden können? Ist der Spagat zwischen beiden nicht erst einmal der kleinste gemeinsame Nenner? Eine Brücke baut "Payback" zumindest, und die erweitert den engen Horizont der deutschen Streitigkeiten über den Atlantik. Dort ist die digitale Gesellschaft längst viel weiter. Und mit ihr die Debatten über eine digitale Zukunft.

© SZ vom 19.11.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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