Frank Schätzing: "Limit":All inklusive

Von ihm könnte Dan Brown noch lernen: "Schwarm"-Bestseller-Autor Frank Schätzing erforscht mit seinem neuen Buch den Mond und die Grenzen des Thrillers.

Gerhard Matzig

Es ist eine Unart, vielleicht aber auch nur eine Torheit, spannungsvoll gemeinte Bücher in die Hand zu nehmen, hinten aufzublättern, um das Ende noch vor dem Anfang zu lesen. Man will wissen, wie es ausgeht - und weiß die Neugier nicht zu zügeln. Einen gibt es allerdings im deutschsprachigen Raum, bei dem dieses Vorgehen gerechtfertigt ist: Frank Schätzing.

An diesem Montag kommt Schätzings neues Buch "Limit" in den Handel (Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009, 1328 S., 26 Euro). Man war darauf gespannt nach dem Millionenerfolg "Der Schwarm" von 2004, der weltweit gelesen wurde, gerade vor den ersten Dreharbeiten in Hollywood steht und den 52-jährigen Kölner Thriller-Autor endgültig in die Crichton-Forsyth-Brown-Liga bugsiert hat. Wie bei diesen Autoren lohnt es sich auch bei Schätzing, die Bücher von hinten nach vorne zu lesen.

Nicht deshalb, weil man auf diese Weise erfährt, ob die Erde gerade noch rechtzeitig gerettet und die Verschwörung aufgedeckt wird. Nicht, weil man beruhigenderweise ahnt, dass der angezettelte Dritte Weltkrieg wie ein Schweizer Kracher in der Pfütze endet: mit leisem Ffftttttt. Sondern weil bei Schätzing die Lektüre der Danksagungen von Interesse ist. Wie bei Forsyth oder Crichton erfährt man hier oder im Register, wie ernst der Autor seinen Gegenstand nimmt. Wie genau und umfassend er ihm nachspürt, um daraus eine überzeugende Geschichte zu destillieren. Die Destillation, die Lehre vom Niederschlag löslicher Stoffe, beschreibt die Tätigkeit guter Thriller-Autoren womöglich am besten. Es ist die Kunst des Abgewinnens und durchaus keine leichte Sache.

Im "Limit"-Fall bedankt sich der Autor bei ISS- und Mir-Astronauten, bei Physikern, Planetenforschern, Energiespezialisten, Weltraumrechtsanwälten oder Holographie-Entwicklern, bei Instituten für Intelligente Informationstechnologie, Stadtplanern, Sinologen oder Slumforschern. Genau das ist es, was Schätzing-Bücher lesenswert macht. Sie gründen nicht allein auf Phantasie und Spekulation, sondern auf jahrelanger Recherche. Sie nehmen das Wissen in Anspruch.

Schätzing et al.: Das ist eigentlich ein Autoren-Kollektiv, und Schätzing selbst immer dann am besten, wenn er mit Hilfe der Experten, Bücher, Aufsätze und des Internets die Phänomene erzählen lässt - und sich auf den Suspense verlässt, der den Dingen zwischen Himmel und Erde naturgemäß innewohnt. Das ist das eine, was Schätzing auszeichnet. Das andere ist eine verblüffende Erzählweise: Schätzing erzählt wie ein Filmemacher. Im Grunde schreibt er überbordende Drehbücher ohne Drehbuchkalkül. Breitestwand ist sein Format.

Mit "Limit" gelingt ihm beides erneut, obwohl er sich diesmal im - allerdings recht nahe liegenden - Gegensatz zum Schwarm-Kino von der Erde und der Tiefsee abwendet, um den Himmel zu erforschen: "Limit" ist ein Versuch über die Grenzenlosigkeit (der menschlichen Gier wie der menschlichen Neugier) und der Grenzen (der natürlichen Ressourcen wie jener, sich global zu verständigen und den Ausgleich zu suchen).

So nebenher testet Schätzing allerdings auch die Grenzen des Thriller-Genres aus: 1320 Seiten umfasst "Limit". Bei einem solchen Volumen ist es für einen Thriller, dessen Gesetze Tempo beziehungsweise Page & Turn heißen, nicht selbstverständlich, am Ende mehr zu sein als ein Backstein der Recherche. Das Buch ist daher gelungen - auch wenn es womöglich etwas weniger Sog entwickelt als der "Schwarm", in dem sich die Meere gegen den Menschen erheben. Die nur ein paar Kilometer tief hinabreichenden Ozeane scheinen erstaunlicherweise mehr Tiefe und Geheimnis zu besitzen als das All in all seiner Unergründlichkeit.

Zwei Handlungsstränge sind es, die Schätzing über einige hundert Seiten mit viel Behutsamkeit entwickelt. Angesichts des zahlreichen, nicht in jedem einzelnen Fall auch interessanten Personals in "Limit" erscheint solche Genauigkeit und Autorenfürsorge jedoch nicht immer angebracht - ein schlankeres Buch wäre also denkbar gewesen.

Im ersten Handlungsstrang geht es um einen illustren Kreis, der sich - im klugerweise antifuturistisch, erkennbar gezeichneten Jahr 2025 - auf den Weg zu einem Mond-Hotel macht. Der Mond ist inzwischen beinahe so gut zu erreichen wie die Malediven.

In diesem Kreis sind versammelt: ein gutaussehender Ex-Perry-Rhodan-Darsteller mit dunkler Neigung, ein russischer Stahlimperialist mit Hang zum Fußball, ein indischer Tomaten-Baron mit Hang zur Untertreibung, eine TV-Klatschkönigin mit Hang zu Männern wie Frauen, eine Milliardärsgattin mit Hang zur Flasche und einige mehr. Angeleitet werden sie von der mal eher manisch (Julian), mal eher depressiv (Lynn) wirkenden Familie Orley, die märchenhaft reich ist.

Julian Orley hat einen (tatsächlich schon zum Ende des 19. Jahrhunderts erstmals diskutierten) Mond-Fahrstuhl erbaut. Durch diesen wird nicht nur der Weltraumtourismus angekurbelt, sondern auch das Energieproblem der Erde gelöst: das Element Helium-3 gibt es dort (tatsächlich) in ungeheuren Mengen. Durch den Transport zur Erde könnte (tatsächlich) das Öl-und-Gas-Zeitalter abgelöst werden. Wie es im Buch heißt: "Die Steinzeit ist nicht am Mangel an Steinen zu Ende gegangen."

Das ist der vielleicht interessanteste Dreh in "Limit": Nicht die Begrenzung der Energiereserven, sondern erst die Grenzenlosigkeit der Energiequellen und Fördermöglichkeiten bringt die Erde an den Rand der Katastrophe.

Denn der wiederaufgenommene Wettlauf zum Mond ist keiner allein der Ökonomen, sondern auch einer der Volkswirtschaften und der nationalen Ideale. An dieser Stelle koppelt Schätzing einen zweiten Handlungsstrang an die Mondfahrt-Party einiger kurioser Geld-Biographien:

Der Cyber-Detektiv Owen Jericho und die naturgemäß sehr schöne Dissidentin Yuyun "Yoyo" Chen sind einem Komplott auf der Spur, das sich von Shanghai über Berlin bis nach Äquatorialguinea erstreckt - und dem Anspruch aller Bond-Filme nach herausragenden Settings gerecht wird. Die Erde tut vielleicht gar zu viel, um der Exotik des Mondes und seiner Kraterlandschaften etwas entgegenzusetzen.

Überzeugend: Schätzings konstruktives Talent. Unter den Autoren ist er der Ingenieur, ein Generalplaner, der genau weiß, wie komplexe, suggestiv aufgeladene Räume aus dem Grundriss von Figuren und Handlungen entwickelt werden; der weiß, wo ein Gang, wo Türen und Fenster sein müssen. Schätzing hat ein spektakuläres Haus entworfen, das standfest ist. Schlicht ist es jedoch nicht - und mancher Gang gerät zu lang.

Wie immer ist Schätzing witzig in der Sprache - wenn auch mit dem schon bekannten Hang zum Räkelhaften einerseits (sie "räkelt ihren Latina-Körper") und zu verbaler Überanstrengung andererseits ("Stimmt, da ziehen sich Parallelen"). Oder: "Norrington, dessen Ängste, seit er sich erinnern konnte, in rege Korrespondenz mit Magen und Darm zu treten pflegten . . .".

Was Schätzing besonders gut gelingt, ist jedoch das Erzähl-Erklären. Ob die Gesetze der Energieförderung, die außenpolitischen Querelen zwischen USA und China oder Orbitmechanik: Selten schleicht sich das Gefühl des Volkshochschulkurses sein. Stattdessen gibt es Wissen, verpackt in meist passgenaue, glaubhafte Dialoge, von denen etwa Dan Brown ruhig lernen könnte.

Im Übrigen bleibt sich Schätzing treu und schreibt auch immer über Schätzing. Etwa über den Weinkenner: In "Lautlos" taucht ein "magischer '88er Pio Cesare" auf Seite 24 auf, im "Schwarm" begegnet man dem ersten Gewürztraminer ("bevorzugter Jahrgang 1985") auf Seite 30 - in "Limit" muss man sich bis zu Seite 85 gedulden: Dann aber tritt der "wunderbare Tignanello" auf. Sogar im All kommt Schätzing nicht ohne seine Genießer und Trunkenbolde aus.

Meist rauschhaft liest sich jedoch das ganze Buch - am Ende ergeht es dem Leser wie dem zitierten Dean Martin: Ein Mann ist so lange nicht betrunken, wie er sich am Boden an etwas festhalten kann. Zum Beispiel an anregend gut recherchierten Fakten. Darauf versteht sich Schätzing wie nur wenige andere Autoren.

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