Schauspielhaus Hamburg:Allzeit glamourbereit

Schauspielhaus Hamburg: Rasante Szenenrevue, diesmal im London des frühen 20. Jahrhunderts: Paul Behren, Matti Krause und Angelika Richter in "Der Geheimagent".

Rasante Szenenrevue, diesmal im London des frühen 20. Jahrhunderts: Paul Behren, Matti Krause und Angelika Richter in "Der Geheimagent".

(Foto: Thomas Aurin)

Frank Castorf ignoriert in seiner Hamburger Inszenierung "Der Geheimagent" konsequent das Thema der Vorlage von Joseph Conrad. Macht aber fast nichts.

Von Till Briegleb

Auf seiner Hochzeitsreise 1896 schrieb Joseph Conrad eine Kurzgeschichte über die brave Frau Susan, die vier geistig matte Kinder zur Welt bringt, dafür von ihrem Mann bepöbelt wird und ihm im Affekt eine Schere in die Halsschlagader sticht. Danach stürzt sie von einer Klippe. Die Geschichte nannte Conrad "The Idiots" und man kann nur spekulieren, wie der Honeymoon gewesen ist, der ihn auf solche Gedanken brachte. Jedenfalls nahm er die Themen zehn Jahre später wieder auf in seinen Roman "The Secret Agent". Und über diese Brücke der Analogien muss dann auch das ahnungslose Publikum in der neuesten Frank-Castorf-Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus gehen.

Die Rahmenhandlung der fünfstündigen Bearbeitung von "Der Geheimagent" stammt nämlich nicht aus dem behandelten Buch und sie meidet recht konsequent die intellektuelle Beschäftigung mit dessen Thema: dem Anarchismus. Conrad, selbst sein Leben lang eher staatsfern in seiner Haltung, nahm um die Jahrhundertwende die damals noch sehr lebendigen Ideen einer herrschaftsfreien Gesellschaft zum Anlass, eine Verschwörungsgeschichte zu schreiben, allerdings von Staatsseite. Der Pornohändler Adolph Verloc, der als Spitzel (vermutlich des Zarenreichs) in London anarchistische Kreise aushorcht, erhält den Auftrag, einen Anschlag auf die Sternwarte Greenwich auszuführen. Der soll die britische Polizei dazu bringen, die recht frei agierenden Exil-Anarchisten in England mit aller Härte zu verfolgen.

Wie das misslingt, erfährt man beim Fragment-Bricoleur Castorf zu später Stunde zwar auch noch in Ansätzen, als mit dem Auftritt von Inspektor Heat (Matti Krause) sein Interesse für den Kolportage-Roman erwacht, der hinter Conrads Agentenstory lauert. Aber bis dahin ist er eher an der Vertuschung von inhaltlichen Linien und Absichten des Autors interessiert. Angelika Richter eröffnet den Abend als Scherenmörderin Susan mit einem langen Soloauftritt, in dem sie das Leiden an blöden Kindern und Männern ausführt. Das leitet über zu ersten Szenen aus dem "Geheimagenten" im Shop für Schmuddelbildchen, wo der geistig schwache Schwager Stevie (Paul Behren) Kreise auf den Zeichenblock malt, seine Schwester Winnie, Verlocs Frau (Anne Müller), schwört, ihm immer beizustehen.

Es wird kreuz und quer zitiert, kann dabei etwas Sinnhaftes herauskommen?

Danach wechselt die Szene in die original kopierte "Downing Street 10", wo der russische Agent Vladimir (Josef Ostendorf) den Kongo auf der Weltkarte ableckt, worauf man schon ahnen kann, was dann kommt. Ostendorf und Charly Hübner (der Verloc, den hier alle nur "Adolf" nennen) sitzen in zwei Empirestühlen und tragen sehr, sehr lange aus Conrads "Herz der Finsternis" vor, das vom Grauen des belgischen Kolonialismus im Kongo erzählt. Außerdem wird im Verlauf des Abends unter anderem noch aus Boris Sawinkows "Das fahle Pferd" und der Johannes-Apokalypse, aus einem Sachbuch für Voodoo-Glauben auf Haiti zitiert. Kann daraus etwas mit Sinn und Verstand werden?

Nein. Aber ein überraschend kurzweiliger Dauervorspann zu einer Geschichte, die sich ständig verflüchtigt, bevor sie greifbar wird. Arm an typischem Castorf-Gebrüll, dafür ununterbrochen musikalisch hinterlegt mit Sounds von lustig bis düster (William Minke) ist dieser "Geheimagent" eine actionreiche Szenenrevue der schönen Andeutungen, eine goldig anarchische Show.

Schauspielhaus Hamburg: Agent Vladimir (Josef Ostendorf ) und Verloc (Charly Hübner) zitieren noch sehr, sehr lang aus Joseph Conrads "Herz der Finsternis".

Agent Vladimir (Josef Ostendorf ) und Verloc (Charly Hübner) zitieren noch sehr, sehr lang aus Joseph Conrads "Herz der Finsternis".

(Foto: Thomas Aurin)

Die nächste großartige Drehbühne von Aleksandar Denić besteht zwar auch wieder aus den bekannten Elementen, aber für das London des Jahres 1907 ergibt die Komposition aus Backsteinwänden, Regierungssitz, East-End-Slum und dunklen Gassen mit Nebel und Regen eine neue Glücksstation für Castorfs Theaterkino. Die tollen Verkleidungen von Adriana Braga Peretzki reichen vom Zylinder- und Hausmantelstil des 19. Jahrhunderts zu Sambamode aus dem brasilianischen Karneval und bodenlangen Dreadlocks. Und in dieser aufwendigen Bereitschaft zu Glamour und Grandezza agieren die sechs Schauspieler als explosive Mischung.

Manisch angetrieben von dem Revolutionär der Vielseitigkeit Matti Krause, der zu seinen drei Rollen auch noch die zwei des erkrankten Michael Weber übernommen hatte, sowie seinem Gegenpart Paul Behren, der den Idioten wie den Oberanarchisten "Professor" in enigmatischer Tiefe als maladen Idealisten neben der Spur spielt, ist hier fast jede Szene wie ein vielversprechender Auftakt. Dass man dabei noch erführe, was Conrad oder Castorf über Anarchismus denken, und was an den Ideen von Bakunin, Kropotkin und Landauer für die Gegenwart schöpferisch wäre, ist vielleicht zu viel verlangt. Das schön gestaltete Chaos ist ja auch eine Botschaft.

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