Wo Sprache ist, ist auch Subtext. Vor allem dort, wo Sprache politisch wird. Zur Analyse dieser Subtexte hat sich in der Forschung in den vergangenen Jahren das Konzept des Framings etabliert. Framing meint einen Assoziations- und damit Deutungsrahmen für Begriffe: Wer "Zitrone" hört, denkt an "sauer" oder "gelb". Das lässt sich politisch instrumentalisieren. Frames definieren nämlich oft ein Problem - und liefern, wenigstens implizit, auch gleich die passende Lösung. Bei einem Begriff wie "Flüchtlingsstrom" sieht man vor dem geistigen Auge große Menschenmassen heranrauschen. Eine Naturgewalt und darin ein Bedrohungsszenario. Was die vermeintliche Lösung "Abschottung" nahelegt.
In einer losen Serie analysiert die SZ das Framing politisch oder gesellschaftlich relevanter Begriffe. Diesmal: Staatsversagen.
Wer den Begriff benutzt:
Die Diagnose "Staatsversagen" stammt ursprünglich aus der Wirtschaftswissenschaft und wird dort vor allem von Befürwortern einer radikalen Marktfreiheit verwendet - als Gegenstück zum "Marktversagen". Ein Staatsversagen liegt laut "Duden der Wirtschaft" vor, "wenn eine unternehmerische Tätigkeit des Staates zu schlechteren volkswirtschaftlichen Ergebnissen oder ineffizienteren Lösungen wirtschaftlicher Probleme führt als eine Organisation über den Markt unter Wettbewerbsbedingungen". Als politischer Vorwurf kam der Begriff vor allem an den radikalen Rändern des Internets auf. Es gibt diverse Portale, die prominenteren mit rechtspopulistischer bis -extremer Tendenz, die Abwandlungen des Begriffs im Namen tragen ("Politikversagen" etwa). Sie behaupten von sich, staatliche Fehler und Probleme zu dokumentieren - auch und vor allem beim Thema Migration.

Framing-Check: "Flächenfraß":Wenn die Gier sich wie eine Krankheit in die Natur frisst
Der Begriff "Flächenfraß" weist auf reale Umweltzerstörung hin. Er setzt aber womöglich sinnvolle Baumaßnahmen auch mit Krebsgeschwüren gleich.
Aktuell verwenden viele politische Kommentatoren ihn vor allem, um zu erklären, warum den mindestens 6000 rechtsradikalen Demonstranten in Chemnitz nicht einmal 600 Polizisten gegenüberstanden. "Es gibt ein Wort für die Jagdszenen in der Innenstadt von Chemnitz. Es ist hart, aber nicht annähernd so schockierend wie die Bilder, die aus Sachsen um die Welt gehen. Es lautet: Staatsversagen", schreibt etwa das Handelsblatt. "In Chemnitz handelt es sich um Staatsversagen", lässt sich die politische Korrespondentin der taz bei Maischberger zitieren. Auch in der SZ tauchte der Begriff auf.
Was der Begriff suggeriert:
"Versagen" ist ein absolutes Urteil, das kaum Abstufungen zulässt. Wer versagt, der hat nicht einfach Details übersehen oder einzelne Aspekte einer Herausforderung nicht erfüllt, er ist an einer Aufgabe oder einer Erwartung vollständig gescheitert. Wer einem Staat Versagen unterstellt, suggeriert damit also sein Scheitern als Gesamteinrichtung.
In der Wissenschaft hat sich der Begriff des "failed state" entwickelt, des gescheiterten Staates. Die Bedeutung variiert je nach Disziplin, alle eint aber, dass die so bezeichneten Staaten mehr oder weniger im Chaos versinken oder nur noch nicht-staatliche Organisationen (wie etwa Clans, Warlords oder die Mafia) eine Form von Ordnung aufrechterhalten. Menschen verhungern in diesen Ländern, sie verenden mangels eines funktionierenden Gesundheitssystems an Krankheiten oder sterben in grausamen Kriegen. Je nach Index finden sich auf den vorderen Rängen der "failed states": Südsudan, Somalia, Syrien, Tschad oder Afghanistan.
Wie das die Wahrnehmung steuert:
Das Bild vom "Staatsversagen" beeinflusst das Denken auf mindestens zwei Ebenen: Auf der ersten spricht es dem Staat in letzter Konsequenz seine Legitimität ab. Ein "failed state" macht schließlich nicht einfach nur Fehler, er kann die ihm übertragenen Aufgaben (Infrastruktur etwa, Wohlstand oder eben Sicherheit), für die der Bürger ihm unter anderem das Machtmonopol übertragen hat, nicht mehr erfüllen.
Wer von "Staatsversagen" spricht, sieht sein Land also nicht einfach Problemen gegenüber - maroden Straßen vielleicht, Defiziten bei der Integration, steigender Arbeitslosigkeit, zu hohen Mieten oder rechter Gewalt. Er spricht ihm die Fähigkeit ab, die Probleme zu lösen. Und nimmt deren bloße Existenz dabei häufig auch noch als Beweis für das Versagen. Das ist eine Weltsicht, die Politik als Zustand begreift, der einem wie auch immer gearteten Ideal zu entsprechen hat. Und nicht als Prozess, bei dem Probleme gelöst werden, um Fortschritt zu erreichen. Wer einen (seinen!) Staat so empfindet, könnte im nächsten Schritt auch sein Gewaltmonopol zurückfordern, ergo: unter anderem für Selbstjustiz plädieren.
Auf einer abstrakteren Ebene ist der Begriff des "Staatsversagens" aber auch noch Teil der Idee des "Staates als Fürsorgeanstalt" oder, heute etwas bestimmender, des "Staates als Dienstleister". Er enthält Spuren einer Zeit irgendwo zwischen Bismarck und Honecker, in der der Glaube an den (Obrigkeits-)Staat und seine Heilsversprechungen noch etwas Quasireligiöses hatte. "Vater Staat", noch so ein schwer framendes Bild, wird sich kümmern.
Untertanen denken so, nicht Bürger.
Diese Anspruchshaltung an Regierungen und andere Träger von Verantwortung entspringt schließlich einer Reihe moralischer Schlussfolgerungen: Wer Gewalt abgibt, und vor allem, wer in der Folge Steuern (also den Staat) bezahlt, der geht eine Art Tauschhandel ein oder beschäftigt gar einen Dienstleister - erwartet also Gegenleistungen. Das ist an sich noch nicht verwerflich. Natürlich dürfen auch Bürger Sicherheit erwarten. Absolute Sicherheit, die offenbar erwartet hatte, wer in Chemnitz oder sonstwo "Staatsversagen" feststellt, ist aber ein demokratisch nicht zu gewährleistendes Ideal.
Eine solche Haltung begreift Bürger und Staat damit verstärkt als getrennte Entitäten und nicht als ein freiheitliches Projekt, das Chancen bietet, nicht als ein Gemeinwesen, zu dem man einen Beitrag leistet. An dem man teilhat. Das man tagtäglich durch sein Handeln und Denken prägt und gestaltet.
Was ein weniger framender Begriff wäre:
"Fehler der Behörden" zum Beispiel. Auch staatliche Institutionen setzen sich schließlich aus Menschen zusammen. Menschen machen Fehler. Kleine, finanziell womöglich belastende Fehler, wenn sie Steuerbescheide nicht gründlich prüfen. Katastrophale, Leib und Leben gefährdende Fehler, wenn sie, wie in Chemnitz, eine Lage unterschätzen. Fehler können grauenhafte Folgen haben. Aber sie haben auch den unschätzbaren Vorteil, dass man sie abstellen, aus ihnen lernen und daran wachsen kann. Als Gesellschaft.