Süddeutsche Zeitung

Framing-Check: "Illiberale Demokratie":Nicht "illiberal", sondern undemokratisch

Staaten wie Russland, Ungarn oder Polen werden oft als "illiberale Demokratie" bezeichnet. Ein problematischer Begriff, der zwei gegensätzliche Demokratiemodelle suggeriert.

Gastbeitrag von Nils Meyer-Ohlendorf und Michael Meyer-Resende

Wo Sprache ist, da ist auch Subtext. Unausgesprochenes, Mitgedachtes. Vor allem dort, wo Sprache politisch wird. Zur Analyse dieser Subtexte hat sich in der Forschung in den vergangenen Jahren das Konzept des Framings etabliert. Framing meint einen Assoziations- und damit Deutungsrahmen für Begriffe: Wer zum Beispiel "Zitrone" hört, denkt vermutlich an "sauer" oder "gelb". Dieser Gedankenschluss lässt sich politisch instrumentalisieren. Frames definieren nämlich oft ein Problem - und liefern, wenigstens implizit, auch gleich die passende Lösung. Bei einem Begriff wie "Flüchtlingsstrom" sieht man vor dem geistigen Auge vermutlich große Menschenmassen heranrauschen. Eine Naturgewalt und darin ein Bedrohungsszenario. Was die vermeintliche Lösung "Abschottung" nahelegt.

In einer losen Serie analysiert die SZ das Framing politisch oder gesellschaftlich relevanter Begriffe. Diesmal: illiberale Demokratie.

Wer den Begriff benutzt:

Viele verwenden den Begriff illiberale Demokratie. Er ist eine feste Größe in der politischen Debatte und wird zum Beispiel regelmäßig mit Bezug auf Polen oder Ungarn, aber auch Russland, verwendet. Ungarns Premierminister Victor Orbán erklärte schon 2014, dass er einen illiberalen Staat aufbauen wolle.

Was der Begriff suggeriert:

Der Begriff suggeriert zwei gegensätzliche Demokratiemodelle. Das liberale Modell beruht auf Gewaltenteilung und Minderheitenrechten, das illiberale Modell hat eine starke Regierung, die den Mehrheits- oder vermeintlichen Volkswillen gegen eine liberale Elite durchsetzt. So oder ähnlich beschreiben auch liberale Wissenschaftler den Unterschied, zum Beispiel der Politologe Yascha Mounk in seinem Buch "Der Zerfall der Demokratie".

Victor Orbán suggeriert, dass eine illiberale Demokratie nicht nur etwas mit dem Staatsaufbau zu tun hat, sondern auch für bestimmte illiberale oder konservative Politikentscheidungen steht: Zum Beispiel gegen Einwanderung und gegen die gleichgeschlechtliche Ehe.

Der Begriff schillert also zwischen der Idee eines starken Staats mit schwacher Gewaltenteilung und konservativen Politikentscheidungen. Politiker wie Orbán, die ihn positiv gebrauchen, behaupten, die liberale Demokratie sei von einer liberalen Clique beherrscht und sie ersticke in "politischer Korrektheit". Ohne echte Meinungsfreiheit sei sie im Ergebnis keine echte Demokratie. Sie sei überhaupt ermüdet und nicht mehr in der Lage, die Interessen der Nation zu schützen.

Wie das die Wahrnehmung steuert:

Es entsteht der Eindruck, dass sich das Verständnis von Demokratie aufgeteilt hat. Selbst Liberale beschreiben Ungarn oder Polen, manchmal sogar Russland, als illiberale Demokratie. Staaten also, die irgendwie anders sind, aber unterm Strich trotzdem Demokratien. Sie heften Orbán & Co. das Demokratieabzeichen an die Brust, welches weiterhin die höchste Ehrbezeichnung in der Politik ist. Niemand will undemokratisch sein. Selbst die kommunistische Partei Chinas behauptet, das Land sei eine Demokratie.

Das ist ein großer Framingsieg für Orbán. Für viele Menschen haben Aspekte des Begriffs "Liberalismus" keinen guten Klang, in Deutschland zum Beispiel schätzen sich nur zwölf Prozent der Bevölkerung als liberal ein. Sie assoziieren den Ausdruck mit wirtschaftlicher "laisser faire"-Politik, mit der Auflösung gesellschaftlicher Normen oder "Neoliberalismus".

Der Begriff der "illiberalen Demokratie" macht unsichtbar, dass in Ungarn und Polen die Demokratie abgebaut wird. Als die polnische Regierungspartei die Rechte der Opposition im Parlament beschnitt, konnte diese sich nicht mehr, wie sonst, mit Aussicht auf Erfolg an das Verfassungsgericht wenden - das wird inzwischen von der Regierung kontrolliert. Eine Demokratie misstraut nicht ihren eigenen Bürger und der Opposition, sondern erleichtert es ihnen, ihre Rechte vor unabhängigen Gerichten durchzusetzen. Die Gleichschaltung von Gerichten ist entsprechend nicht illiberal, sondern undemokratisch.

Im Übrigen geht das Problem über die Gerichte hinaus: Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa kritisierte, dass bei den vergangenen Parlamentswahlen in Ungarn die Grenzen zwischen Regierungspartei und Staat so überlappten, dass die Opposition nicht mehr auf Augenhöhe konkurrieren kann. Die sogenannten illiberalen Demokratien haben also ein fundamentales Demokratieproblem.

Was ein passender Begriff wäre:

Es gibt illiberale Politikentscheidungen, zum Beispiel gegen die gleichgeschlechtliche Ehe oder für restriktive Einwanderungsgesetze. Das ließe sich illiberale Politik nennen, sie ist aber nicht undemokratisch, wenn eine Mehrheit so entschieden hat. Wenn aber Regierungsparteien den Staat umbauen, um die Gerichte und die Medien zu kontrollieren, und wenn Bürgergruppen schikaniert werden, sollte man von einer beschädigten Demokratie sprechen, die zum autoritären Staat werden kann. Kurz: Ein illiberaler Staat ist oft undemokratisch oder autoritär. Undemokratisch oder autoritär sind die passenden Begriffe.

Nils Meyer-Ohlendorf und Michael Meyer-Resende sind Mitgründer von Democracy Reporting International, einer unabhängigen Organisation, die sich weltweit für politische Partizipation und Entwicklung von demokratischen Institutionen einsetzt.

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