Fotoprojekt über Russlanddeutsche:Russische Rüschen und deutsche Gardinen

Ira Thiessen hat Russlanddeutsche in deren Wohnungen fotografiert. Ihre Bilder zeigen, wie gelebte Integration aussieht - und wie schmerzhaft sie sein kann.

Von Johanna Bruckner

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(Foto: Ira Thiessen/www.irathiessen.com/)

"Die kapseln sich ab." - "Die wollen sich doch gar nicht integrieren." - "Ghettoisierung." Egal, ob auf politischer Ebene oder im privaten Kreis: Wenn es in Diskussionen um fremde Kulturen in Deutschland geht, ist der Tenor häufig ein negativer. Die unbekannte Lebensweise erzeugt Verunsicherung, daraus wird schnell Ablehnung. Ira Thiessen hat diese Vorurteile gegenüber anderen Kulturen als Ausgangspunkt für ihr Fotoprojekt genommen: "Privet Germania" heißt ihre Serie, für die sie Russlanddeutsche in deren Wohnungen porträtiert hat.

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(Foto: Ira Thiessen/www.irathiessen.com/)

Oder vielmehr inszeniert hat: Da posiert ein junger Mann mit einem kleinen Jungen, als seien die beiden zu Posterboys für Wladimir Putins neue Militärkampagne auserkoren worden. In Tarnhose, Ringelshirt und Barett salutiert der Ältere vor der Dinosaueriertapete. Am rechten Bildrand ist gerade noch ein Kleiderschrank in Birkenfunier zu erkennen. Thiessens Bilder sind feine Arrangements, in denen die russische und die deutsche Kultur auf eine universelle Popkultur treffen.

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(Foto: Ira Thiessen/www.irathiessen.com/)

Die Fotografin weiß, was es bedeutet, sich in einem fremden Land zurechtfinden zu müssen. Geboren wurde sie 1983 in Bishkek in Kirgisistan, als sie sechs Jahre alt war, wanderten ihre Eltern nach Deutschland aus - in die Heimat ihrer Vorfahren. Doch wie kann diese alte Heimat die eigene, neue werden?

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(Foto: Ira Thiessen/www.irathiessen.com/)

Thiessen, die heute in Berlin lebt, spricht von einer "hybriden Identität", die viele Russlanddeutsche hätten. Das kann zum Beispiel bedeuten: Vorhänge in der Wohnung zu haben, die man so in jedem deutsch-schwedischen Einrichtungshaus bekommt, und gleichzeitig eine sehr russische Liebe zu opulenten Kleidern und Puppen zu pflegen. Selbst wenn diese Puppen aus Amerika kommen.

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(Foto: Ira Thiessen/www.irathiessen.com/)

Thiessen hat Familienangehörige, Freunde, Bekannte, aber auch Fremde fotografiert. "Um ein komplettes Fotostudio in den privaten Räumen einer Person aufbauen zu dürfen, bedarf es viel Zeit, einer Menge Geduld und Vertrauen", erzählt sie. Wer genau auf ihren Bildern zu sehen ist, behält sie deshalb für sich. Das ist ein Vertrauensbeweis gegenüber ihren Modellen, die nicht nur Thiessen ihr Zuhause öffneten, sondern auch dem Betrachter etwas über sich als Person erzählen: Die Posen sind im Gegensatz zum Setting jeweils selbstgewählt.

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(Foto: Ira Thiessen/www.irathiessen.com/)

Thiessen verrät über ihre Protagonisten nur das: Viele haben eine akademische Ausbildung und hatten in Russland hohe Positionen in Politik, Kultur oder Militär inne. Doch in Deutschland wurden ihre Abschlüsse nicht anerkannt - "worunter sie heute leiden", so Thiessen.

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(Foto: Ira Thiessen/www.irathiessen.com/)

Die Anonymität ist auch künstlerisches Mittel, denn Thiessens Arbeiten sind keine dokumentarischen Porträts. "Mein Ziel war es, das gesamte Bild und die Elemente darin zu überzeichnen, daher auch die für den Betrachter offensichtliche Inszenierung." Am deutlichsten wird die durch den Vorhang, der auf jedem Bild zu sehen ist. So wird ein Wohnzimmer mit typisch deutscher Schrankwand zur Bühne.

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(Foto: Ira Thiessen/www.irathiessen.com/)

Dass auf dem fertigen Bild nicht nur der Vorhang als Hintergrund zu sehen sein würde, überraschte manche Protagonisten. "Diese künstlerische Inszenierung wirkte auf sie wie ein Versehen." Stolz waren trotzdem alle auf das Ergebnis.

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(Foto: Ira Thiessen/www.irathiessen.com/)

Die Frage, was nun "typisch russlanddeutsch" ist, hat die Fotografin bei ihrem Projekt begleitet. Eine eindeutige Antwort darauf geben ihre Fotos aber nicht. Sie habe sich auf "Kleidung, Berufe und Bräuche" konzentriert, erzählt sie. Letztere begleiten viele Spätaussiedler in die neue Heimat - und werden dort mit der Zeit neu interpretiert. "In Russland feiert man Weihnachten am 7. Januar", erklärt Thiessen. "Inzwischen feiern viele Russlanddeutsche aber nach deutschem Brauch am 24.12. Dann wiederum mit russischen Speisen wie zum Beispiel dem traditionellem Gericht 'Pelmeni' (gefüllte Teigtaschen, Anm. d. Red.)."

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(Foto: Ira Thiessen/www.irathiessen.com/)

Romantischer Kitsch neben religiösem Kitsch: Im Leben dieses Paares geht das zusammen. Das Aushalten von Gegensätzen, von Spannungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart - vielleicht ist das am ehesten "typisch russlanddeutsch". Diese kulturelle Flexibilität, die sich viele Zugezogene aneignen, unabhängig von ihrem Herkunftsland, ist Segen und Fluch zugleich. Einerseits erleichtert sie die Integration - andererseits sorgt sie für ein permanentes Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit.

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(Foto: Ira Thiessen/www.irathiessen.com/)

"Gerade die ältere Generation der Spätaussiedler sprach als größtes Problem an, dass sie sich in Deutschland bis heute nicht heimisch fühlen", erzählt Thiessen. "Hier werden sie als 'Russen' angesehen. In der Sowjetunion waren sie 'die Deutschen', manchmal sogar die 'deutschen Faschisten'. Sie fühlen sich abgelehnt und leiden unter der fehlenden Akzeptanz in beiden Ländern." Und so wirbt Thiessens Fotoreihe auch um Verständnis für die Menschen, die manchmal zwischen, im besten Fall mit zwei Kulturen leben. "Privet Germania" - das heißt "Hallo Deutschland". Die vollständige Fotoserie ist auf der Webseite von Ira Thiessen zu sehen.

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