Fotoprojekt über Opfer von Säureanschlägen:"Ich ziehe den Hut vor diesen Frauen"

Neehaari Un/Sichtbar Ann-Christine Woehrl

Als Neehaari aus Indien ihren Schleier in der Öffentlichkeit abnahm, war es wie ihr "eigener Unabhängigkeitstag".

(Foto: Ann-Christine Woehrl/Echo Photo Agency)

Ann-Christine Woehrl hat Frauen porträtiert, die Opfer von Säure- oder Brandattacken wurden. Ein Gespräch über starke Frauen, das Wegschauen und wie eine Kamera bei der Traumabewältigung helfen kann.

Von Carolin Gasteiger

Sie wurden mit Säure überschüttet - und sind ihr Leben lang entstellt. Vorwiegend Frauen werden Opfer solcher Attacken, die meist aus Rache oder Eifersucht geschehen. Die deutsch-französische Fotografin Ann-Christine Woehrl hat Betroffene in Bangladesch, Kambodscha, Indien, Pakistan, Uganda und Nepal porträtiert. Um die Reaktion des Betrachters ging es ihr dabei weniger als um die abgebildeten Frauen. Vielleicht ist das der Grund, warum ihre Ausstellung in München weder anprangert noch provoziert.

SZ.de: Ihre Bilder verbergen nichts. Dennoch heißt die Ausstellung Un/sichtbar.

Ann-Christine Woehrl: Es geht um die sichtbaren und unsichtbaren Wunden nach einer Brand- oder Säureattacke. Mit dem Schrägstrich versuche ich auszudrücken, dass die Frauen zwar durch ihre Entstellung in der Gesellschaft unsichtbar geworden sind. Gleichzeitig versuchen sie aber, sich selbst wieder sichtbar zu machen.

Das hört sich nach starken Frauen an.

Ihre Kraft kommt bestimmt von innen. Die plötzliche Aufmerksamkeit der Kamera hat sie ermutigt. Auf einmal haben sie gemerkt: Sie werden wahrgenommen, ernstgenommen und sind es wert, fotografiert zu werden. Manche haben in diesem Moment realisiert, "ich muss mich ja gar nicht mehr verstecken" - und tun es seitdem auch nicht mehr.

Sie wagen sich wieder in die Öffentlichkeit?

Ja. Und sie gehen immer wieder neue kleine Mutproben ein: Neehaari aus Indien, die sich umbringen wollte, nachdem ihr Mann sie misshandelt hatte, ist mit mir zum ersten Mal in der Öffentlichkeit Essen gegangen, anlässlich des Geburtstages ihres besten Freundes. Dabei musste sie ihren Schleier abnehmen und war unglaublich aufgeregt. Danach meinte sie, das sei wie ihr eigener Unabhängigkeitstag gewesen. Inzwischen hat sie sich sogar ein Tattoo machen lassen. Auch Flavia aus Uganda hat mich mit ihrem Lebensmut sehr beeindruckt: Sie wurde mit Säure angegriffen, vermutlich von einem verschmähten Verehrer, und traute sich zwei Jahre lang nicht, das Haus zu verlassen. Inzwischen arbeitet sie als Kommunikationstrainerin in einer Modelschule und hat erkannt, dass andere von ihrem Wissen profitieren können.

In unserer Gesellschaft sind Opfer von Säureattacken eher die Ausnahme. Oder wollen wir sie einfach nicht sehen?

Auch wenn Säureattacken hier vielleicht seltener vorkommen, ist es ein globales Problem. Es geht um den Umgang mit Makeln generell - egal, wo. Bei einigen Begegnungen mit Brandopfern hier in Deutschland fiel mir auf, dass wir als Gesellschaft Menschen unsichtbar machen, indem wir sie nicht beachten, vor allem weil wir nicht wissen, wie wir mit ihnen umgehen sollen. Dieses Nicht-Hinschauen-Wollen ist ein absolut menschliches Verhalten, aber auch für beide Seiten belastend. Und dem Opfer kann das viel mehr wehtun als die physischen Verletzungen. Das wollte ich mit meinen Bildern ausdrücken.

"Als wäre ein Funke übergesprungen"

Ann-Christine Woehrl Un/Sichtbar Flavia Uganda

Flavia wurde mit Säure attackiert - und hat zwei Jahre lang das Haus nicht verlassen.

(Foto: Ann-Christine Woehrl/Echo Photo Agency)

Vermitteln Porträts diese Unsichtbarkeit am besten?

Mit den Porträts wollte ich erreichen, dass die Frauen zu ihrer wirklichen Identität zurückfinden. Vor dem schwarzen Hintergrund, den ich aufgebaut habe, konnten sie sich mit all ihrer Würde, ihrem Stolz und Selbstwert darstellen, unabhängig von ihrem Umfeld oder dem Kollektivstigma. Da musste ich erstmal abwarten, wie sie das überhaupt annehmen. Manche haben sich geweigert, aus Angst vor der Reaktion anderer oder weil sie sich doch nicht so wohl fühlten. Andere haben nach und nach ihre Scheu verloren und die Aufmerksamkeit richtig genossen. Und die Dokumentarfotos sollen den Alltag der Frauen zeigen, die Momente, in denen sie verzweifelt sind, aber auch Mut schöpfen.

Sie haben die Frauen über Hilfsorganisationen gefunden. Den Kontakt herzustellen, ist das eine, Vertrauen aufzubauen das andere. Wie ist Ihnen das gelungen?

Mir war klar, dass man ganz behutsam und vorsichtig mit ihnen umgehen muss. Als ich ihnen erklärt habe, was ich mache und warum, entstand schnell ein einvernehmliches Grundvertrauen. Als wäre ein Funke übergesprungen. Ich hatte das Gefühl, sie waren sehr dankbar, sich mitteilen zu dürfen. Bei manchen haben sich Freunde oder sogar die Familie abgewendet - da fehlt es an Aufmerksamkeit.

Also hat die Kamera bei der Traumabewältigung geholfen. Trotzdem können Ihre Bilder auf den ersten Blick verstören.

Dieser erste Blick fehlt mir. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich so viel mit diesen Frauen beschäftigt habe, dass ich irgendwann wirklich nur noch den Menschen gesehen habe. Mir ging es mehr darum, was die Aufnahmen für die Frauen bedeuten und wie sie sich dabei fühlen, als darum, was das mit dem Betrachter macht.

Wie ertragen Sie all die schlimmen Schicksale?

Sie sind natürlich tragisch und berühren einen menschlich. Je mehr man Einblick in das Leben der Frauen bekommt, desto unterschiedlichere Stimmungen durchläuft man. Ich habe auch Momente erlebt, in denen mich ihre Verletzlichkeit sehr mitgenommen hat. Aber gleichzeitig fühlte ich mich ermutigt, wenn ich gesehen habe, was dieses Wahrgenommen-Werden mit den Frauen macht. Wie sie neuen Mut fassen, sich öffnen, das war stärker als die Wut über die Täter. Ich ziehe den Hut vor diesen Frauen, weil ich gar nicht wüsste, wie ich selbst damit umgehen würde.

Ausstellung UN/SICHTBAR Ann-Christine Woehrl

Ann-Christine Woehrl vor einem Porträt ihrer Ausstellung.

(Foto: dpa)

Warum spielen Frauen eine so große Rolle in Ihrer Arbeit?

Die Themen - jetzt die Säureopfer und zuvor das Thema Hexen - betreffen nun mal vorwiegend Frauen. Mich in sie reinzufühlen, fällt mir leichter, als es mit Männern wäre. Und ohne jetzt emanzipatorisch klingen zu wollen - aber Frauen sind in vielen Gesellschaften einfach noch nicht an der Stelle, wo sie sein sollten. Ihnen auf diesem Weg ein Quäntchen Mut mitzugeben, inspiriert mich.

Un/sichtbar. Frauen Überleben Säure. Vom 6. Juni 2014 bis zum 19. Januar 2015, Völkerkundemuseum. Bei der Edition Lammerhuber ist zudem der Bildband "Invisible" erschienen, 212 Seiten, 49,90 Euro.

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