Irgendwann begann die 1961 in Neu-Delhi geborene indische Fotografin Dayanita Singh, in ihrer Heimat Archive abzulichten. Zuerst unsystematisch, nach mehr als zehn Jahren dann gezielt und zunehmend fasziniert. Archive, so wie sie früher in der ganzen Welt aussahen und jetzt, in den neuen Zeiten der umfassenden digitalen Observierung und Archivierung, nur noch in einzelnen Reservaten der Epochenverschleppung zu finden sind: Höhlen voller Papier, gestapelt, gebündelt oder abgeheftet, in Mappen, Ordnern, Schachteln oder Stoffbeuteln gesammelt, in Regalen oder Schubladen verstaut, auf Tischen und am Boden sich türmend.
Alles, was in solchen Räumen aufbewahrt wird oder wurde, zu welchem Zweck und im Auftrag welcher Institution auch immer, bezeichnet das englische Wort "file", das die Akte, das Schriftstück, die Mappe, den Ordner, den Hefter, die Kartei, den Karteikasten, den Vorgang oder das Dossier meinen kann - und dessen Bedeutungsspektrum im digitalen Zeitalter mehr und mehr auf "Datei" zusammengeschnurrt ist.
Die Tage analogen Archivierens scheinen gezählt
Zugleich erfuhr auch das Dokument, die Grundsubstanz jener papierenen Ordnungs- und Hortungssysteme, eine Bedeutungsverschiebung: vom "Beweisstück" und der "Urkunde" zur "einheitlich gespeicherten und zusammengehörenden Datenmenge", also vom historisch oder amtlich gesicherten Beleg zum beliebig kopier- und veränderbaren digitalen Textgebilde.
Fotograf Robert Adams in Bottrop:Stille des Donners
Den amerikanischen Westen sieht der große US-Fotograf Robert Adams als Ort von Trauer und Hoffnung zugleich. Weil die gewaltige Natur im Menschen dort einen unerbittlichen Feind gefunden hat. Nun ist eine Retrospektive des Künstlers erstmals in Deutschland zu sehen.
Die Tage analogen Archivierens scheinen gezählt zu sein; es ist also höchste Zeit, "Archivmuseen" einzurichten, Monumente einer untergehenden Welt, die versuchte, Information und Wissen, einschließlich aller damit verbundenen Irrtümer und Lügen, in materieller, "greifbarer" Form festzuhalten.
Dayanita Singh, mit ihrer Installation "Sea of Files" bei der aktuellen Biennale von Venedig im deutschen Pavillon zu Gast, hat am National Institute of Design in Ahmedabad und Dokumentarfotografie bei Mary Ellen Mark am International Center of Photography in New York studiert. Sie ist auf dem Gebiet der Aktenberg-Fotografie zwar keine Pionierin, aber sie hält für ihr Land das Bildmaterial zu einem Denkmal für jene vom Verschwinden bedrohte Kulturtechnik bereit.
Ihr Bildband "File Room" zeigt Schwarzweißfotos von indischen Archivräumen, die wohl mehr noch als ihre westlichen Pendants den Zustand sinnfällig werden lassen, in dem Sammelfleiß und Ordnungswille in Entropie umschlagen. Auf manchen Bildern sind zudem Archivare sichtbar, die Herrscher über das staubige, lichtarme Reich der Kataloge und Registraturen, Messies mit staatlicher Legitimation, Verwalter von Zeitkapseln in bizarrer Papier-Architektur.
Vom Geruch des indischen Papiers
Dayanita Singhs Landsmann Aveek Sen, Autor und Redakteur bei The Telegraph in Kalkutta, hat Texte verfasst, die seine eigenen Erlebnisse mit Aktenstapeln und Dokumentenmappen schildern, vom besonderen Geruch des indischen Papiers über die stille nächtliche Arbeit der papierfressenden Insekten bis hin zum Alltag einer Archivarin.
Und der Schweizer Kurator Hans Ulrich Obrist hat ein langes Interview mit Dayanita Singh geführt, in dem sie über ihre Erfahrungen und Entdeckungen bei der Archiv-Dokumentation und über ihren Plan eines "tragbaren Museums" berichtet (alle Textbeiträge in englischer Sprache).
Leider fehlt dem Band ein Bildverzeichnis, das darüber Auskunft geben würde, welchen Archivräumen Indiens die Fotografin hier ein Denkmal gesetzt hat. So werden die Fotos auf ihren leicht skurrilen Schauwert reduziert, was den dokumentarischen Ansatz und den Museumsgedanken unterläuft. Dafür ist der Leineneinband in zehn verschiedenen Farben erhältlich.
Dayanita Singh: File Room. Steidl Verlag, Göttingen 2013. 88 Seiten, 30 Euro.