Süddeutsche Zeitung

Herlinde Koelbl zum 80.:Lebenskunde mit der Kamera

  • Die Fotografin und Dokumentarfilmerin Herlinde Koelbl wird 80.
  • In ihren Fotoprojekten widmete sich die Künstlerin menschlichen Haaren ebenso hingebungsvoll wie Berufsbekleidung - im Zentrum ihrer Arbeit stand schon immer der Mensch.
  • Ihr berühmtestes Werk ist die Langzeitstudie "Spuren der Macht", in der sie zwischen 1991 und 1998 jedes Jahr führende deutsche Politiker porträtierte.

Von Christine Dössel

Die Frau leuchtet. Bei Empfängen sticht sie mit ihren hochgesteckten, orangefarbenen Locken und fein gesetzten Farbakzenten aus dem Einheitsschwarz der Menge immer sofort heraus, pumucklhaft-damenhaft, beides zugleich. Die Münchner Fotografin Herlinde Koelbl ist eine in jeder Hinsicht erfreuliche Erscheinung, auch wenn man bei ihr stets befürchtet, dass sie einen mit ihrem unbestechlichen, freundlich-wasserblauen Blick nicht nur sehr genau anschaut, sondern auch durchschaut. Das ist die herausragende Qualität dieser Frau, die Menschen nicht einfach nur in den Fokus nimmt, sondern regelrecht zu scannen und zu begreifen und in ihre Persönlichkeit zu dringen scheint, bevor und wenn sie fotografiert.

Koelbl ist eine Menschen(ein)fängerin. Eine akribische Fotoporträtistin, Interviewerin und Gesellschaftchronistin und als solche auch: Verhaltensforscherin. Mit ihren Dokumentationen - in Bildern, Filmen und auch Texten - hat sie sich einen weithin bekannten Namen gemacht. Und das alles als Spätzünderin, Autodidaktin, Mutter von vier Kindern.

Geboren am 31. Oktober 1939 in Lindau, wuchs Herlinde Koelbl am Bodensee auf, ging in München auf die Modeschule, heiratete früh und bekam vier Kinder, die sie irgendwann abzulichten begann. Sie war 37, als sie Fotografin wurde. Einen ersten großen Erfolg feierte sie 1980 mit dem Bildband "Das deutsche Wohnzimmer": deutsche Klein-, Spieß- und Wohlstandsbürger daheim in ihrer guten Stube. Private Einblicke in soziale Wirklichkeiten.

Später folgte der Blick in die Schlafzimmer, nicht durchs Schlüsselloch, sondern auf Augenhöhe mit Menschen, die sich selber intim präsentieren und inszenieren. Koelbl ist keine Voyeurin, sie sucht den Dialog mit den Menschen, bringt sie zum Reden, zur Selbstdarstellung (nicht: Selbstentblößung), ermuntert ihr Gegenüber auch schon mal zu mutigen Aktporträts wie in den Bildbänden "Männer" (1984) und "Starke Frauen" (1996).

Koelbl widmete sich in Fotoprojekten den Haaren der Menschen ebenso hingebungsvoll wie ihrer Berufsbekleidung, drehte über die Berliner Politjournalistenszene den Dokumentarfilm "Die Meute" (2001) und begleitete Benjamin von Stuckrad-Barres Drogenentzug in "Rausch und Ruhm" (2003). Ihr berühmtestes Werk ist die Langzeitstudie "Spuren der Macht", in der sie zwischen 1991 und 1998 führende deutsche Politiker wie Gerhard Schröder und Joschka Fischer porträtierte - jährlich. Angela Merkel kommt noch immer jedes Jahr zum Fototermin.

Ein Langzeitprojekt waren auch die "Jüdischen Porträts", Begegnungen mit jüdischen Denkern, Schriftstellern, Holocaust-Überlebenden. Ihre jüngste Porträtreihe ist in der Psychiatrie entstanden und derzeit im Bayerischen Landtag ausgestellt (bis 15. November): lebensgroße Fotografien von Patienten, Pflegern, Ärzten, ohne Angaben, wer die psychisch Kranken sind.

Ruhestand ist von dieser umtriebigen, unbändig neugierigen Lebenskundlerin nicht zu erwarten. Dass Herlinde Koelbl an diesem Donnerstag 80 wird, will man kaum glauben. Sie sei beglückwünscht und geehrt.

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Quelle:
SZ vom 31.10.2019
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