Süddeutsche Zeitung

Fotografiegeschichte:Die Vertraute

Eve Arnold arbeitete sich an die Spitze von Magnum, als andere Fotografen Frauen nur Plätzchenbacken zutrauten. Jetzt beginnt die weltberühmte Fotoagentur mit ihrem Werk eine Bildbandreihe.

Von Tim Neshitov

Eve Arnold wurde durch Zufall zur Fotografin, als ein Freund ihr eine Kamera schenkte, eine 40 Dollar billige Rolleicord. Da war Arnold schon über dreißig und studierte in New York Medizin. Was aus dem Boyfriend wurde, ist nicht überliefert, aber aus Eve Arnold wurde eine der besten Fotografinnen des 20. Jahrhunderts.

Sie war nie so berühmt, so gigantisch wie Robert Capa oder Henri Cartier-Bresson, die Gründungsväter von Magnum. Aber im Rückblick ist sie mindestens so prägend für die Kunst und das Geschäft des Fotografierens gewesen wie die legendären Fotografen. Vielleicht sogar mehr. Das ist zumindest die Meinung der Magnum-Profis von heute.

Mit Eve Arnold hat Magnum nun eine Serie von biografischen Fotobänden gestartet, die der Agentur selbst gewidmet sind, den Legenden von einst und den Kollegen von heute. Magnum Legacy heißt die Serie, sie soll die Menschen hinter den Profis zeigen. Der erste Band - über Eve Arnold - ist gerade erschienen.

Eigentlich ist das kein Bildband, sondern ein reich bebildertes Buch. Aber der Text der amerikanischen Kriegsreporterin Janine di Giovanni ist so gut, dass man sich nicht mehr Fotos wünscht, was bei Bildbänden oft der Fall ist. Stattdessen ergänzen sich Bild und Text auf eine fein komponierte Art, die Eve Arnold vermutlich gefallen hätte. Sie schrieb die Geschichten zu ihren Fotoreportagen mit Vorliebe selbst. Di Giovanni schöpft aus Arnolds Privatarchiv, ihren Tagebüchern und Briefen, die kürzlich von einer Bibliothek der Yale University öffentlich gemacht wurden.

Eve Arnold wurde 1912 geboren, im Jahr des Titanic-Unglücks, und starb 2012 kurz vor ihrem hundertsten Geburtstag. Sie erlebte die Gründungsjahre von Magnum (Capa holte sie 1951 dazu), die hektische Zeit nach Capas Tod 1954, den Vormarsch der Farbfotografie, die Digitalisierung. Sie fotografierte Marilyn Monroe, chinesische Bauern, Malcolm X, Prostituierte in Havanna, sowjetische Hochzeiten, Senator McCarthy, südafrikanische Minenarbeiter, die eigenen Enkelkinder, die Queen. Noch 1997 reiste sie nach Kuba, einer Insel, die ihr besonders am Herzen lag.

Die Monroe war für sie das perfekte Modell. Niemand hatte diesen Instinkt für die Kamera

Isabella Rossellini, die Eve Arnold am Set von "Blue Velvet" kennenlernte, sagte über die Fotografin: "Sie liebt das Leben und die Menschen. Mit ihren mitfühlenden Augen und ihrem Humor richtet sie ihr Objektiv auf den Star, den Politiker, den Bettler, das Kind, um jeweils den Menschen dahinter zu fotografieren."

Jeder vertraute Eve Arnold. Für Marilyn Monroe wurde sie zu einem Anker. Im Sommer 1960 verbrachten die beiden zwei Monate in der Wüste von Nevada, bei unmöglicher Hitze, bei den Dreharbeiten zu "The Misfits". Eigentlich war so ziemlich alles unmöglich in Nevada: Monroe stritt sich mit ihrem Noch-Ehemann Arthur Miller. Dieser schrieb das Drehbuch immer wieder um. Der Regisseur John Huston trank und spielte Karten. Arnold wollte nur zwei Wochen bleiben, aber Monroe, frisch zurück von einer Entziehungskur, überredete sie. "Ich bin müde", sagte Monroe. "Ich drehe seit sechs Monaten, ich tanze seit sechs Monaten, ich bin 34, weißt du, was mit mir passieren wird?"

Für Eve Arnold war Marilyn Monroe das perfekte Fotomodell, jemand, der mit einem angeborenen Instinkt den Fotografen und die Kamera für seine Zwecke einsetzte. "Ich habe niemanden kennengelernt, der nur annähernd an Marilyn herankam", schrieb Arnold Jahrzehnte später: "Sie blieb die Messlatte, an der ich - unbewusst - andere gemessen habe."

Das Vertrauen zu sich selbst musste die vertrauenserweckende Eve Arnold sich erst erkämpfen. Sie wurde als das fünfte von zehn Kindern einer Emigrantenfamilie in Philadelphia geboren. Ihre Eltern waren Juden, die vor Pogromen in der Ukraine geflohen waren. Sie sprachen kaum Englisch, hatten wenig zu essen. Die Mutter ließ manchmal einen Topf mit Wasser stundenlang auf dem Ofen blubbern, damit die Nachbarn dachten, sie koche Suppe. Erst 1943, mit 31 Jahren, gelang Eve der Ausbruch - nach New York. Sie heiratete einen neun Jahre jüngeren Designer, einen ehemals deutschen Juden, der im Krieg in den Reihen der US Army schwer verletzt worden war. Sie hatten einen Sohn, aber die Ehe dauerte nicht lange. Eve Arnold sprach selten über ihr Privatleben, und auch in diesem Buch findet man nicht viel darüber.

Die einzige professionelle Ausbildung, die Arnold durchlief, war ein sechswöchiger Kurs bei Alexey Brodovitch, dem so beliebten wie gefürchteten Art Director von Harper's Bazaar, einem russischen Aristokraten, der aus der Sowjetunion geflohen war. Der Mann unterrichtete, indem er jeden Schüler von der Gruppe kritisieren ließ. "Is Socratic method", sagte er mit schwerem russischen Akzent über seine "sokratische Methode": "Ich werde nicht unterrichten. Sie werden voneinander lernen." Arnolds Durchbruch, eine Fotostrecke über schwarze Modeschauen in Harlem, entstand bei einer seiner Übungen.

In ihrer Anfangszeit bei Magnum musste sich Arnold gegen viele Männer durchbeißen. Der große Elliott Erwitt hielt sie für eine "Hausfrau, die sehr gute Plätzchen machte". Magnum sei wie eine Familie gewesen, erinnerte sich Arnold. "Du LIEBST sie alle, aber du MAGST sie nicht alle."

Trotz ihres schnell erarbeiteten Ruhms - Life, Vogue, Sunday Times, Stern - musste sich Eve Arnold jahrzehntelang Gedanken über Geld machen. Sie verdiente nicht viel, fotografierte für Werbekampagnen, schrieb Redakteuren hinterher, die vergessen hatten, ihr das Honorar zu überweisen. Sie kam erschöpft von monatelangen Dienstreisen zurück, zermalmt vom Elend, litt an Depressionen, vermisste ihren Sohn, sperrte sich auf Flughafentoiletten ein, um sich auszuheulen.

Es sei Neugier gewesen, die sie antrieb, sagte sie. Egal, ob sie in Farbe fotografierte, schwarz-weiß oder digital. "Fokussiert euch auf die Augen", empfahl sie chinesischen Fotografen Ende der Siebzigerjahre. "Vergesst nicht: Der Fotograf ist das Werkzeug, nicht die Kamera."

1997 reiste Arnold nach Kuba, um Juana zu treffen, eine Frau, die sie 1954 als kleines Mädchen fotografiert hatte. Damals wollten die bettelarmen Eltern, dass Arnold sie adoptierte. Nun saß eine lebensfrohe Großmutter vor ihr, auf dem gleichen Baum. Und Arnold drückte auf den Auflöser, auf einer anderen Kamera, aber mit demselben Blick fürs Wesentliche.

Janine di Giovanni: Eve Arnold - Magnum Legacy. In englischer Sprache, Prestel-Verlag, München 2015. 192 Seiten, 39,95 Euro.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2503614
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 03.06.2015
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.