Fotografie und Moderne:Bild & Ballon

Fotografie und Moderne: Bernd Stiegler: Nadar. Bilder der Moderne. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2019. 312 Seiten, 19,80 Euro.

Bernd Stiegler: Nadar. Bilder der Moderne. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2019. 312 Seiten, 19,80 Euro.

Bernd Stiegler schreibt über die Fotografenfamilie Tournachon, die sich im 19. Jahrhundert in Paris den Markennamen "Nadar" erfand und eine wichtige Rolle in der Moderne spielte.

Von Tobias Lehmkuhl

Bernd Stiegler ist sicher der findigste Fotografiehistoriker dieses Landes. Wir verdanken ihm mit "Bilder der Fotografie" ein erstaunliches Album "fotografischer Metaphern", ein Album sprachlicher Bilder, die das Bildmedium Fotografie in den letzten knapp zwei Jahrhunderten generiert und selbst wiederum in optische Bilder umgesetzt hat. Seine Studie "Belichtete Augen" stellt sogenannte Optogramme in den Mittelpunkt der Betrachtung, letzte Bilder also, die auf der Netzhaut Sterbender vermeintlich abgespeichert werden. Und er hat mit seinem Buch über "Spuren, Elfen und andere Erscheinungen" Arthur Conan Doyles gezeigt, wie nah sich die vermeintlich exakte Fotografie und der Glaube an Geister und Zauberei einst waren (und womöglich immer noch sind).

Nun stellt Stiegler mit Nadar einen Fotografen, oder vielmehr ein Trio von Fotografen in den Mittelpunkt der Betrachtung, das zwar den meisten ein Begriff sein dürfte, hierzulande aber bislang nie zum Gegenstand einer Biografie geworden ist. Wobei es auch Stiegler in seinem Buch weniger um die Lebensgeschichte der Brüder Nadar, bzw. der von Nadar Junior geht, sondern um die "Bilder der Moderne", die ohne ihr Schaffen anders ausgesehen hätten.

Mit dem Namen Nadar bringt man in erster Linie Félix Tournachon in Verbindung, den älteren der Brüder Tournachon und Vater von Paul Tournachon. Sein Künstler- oder vielmehr Markenname wurde eine Zeit lang auch von seinem Bruder Adrien verwendet, bis ein Gericht entschied, dass nur Félix ihn verwenden dürfe. Sein Sohn Paul führte ihn dann ebenso wie das Atelier seines Vaters weiter. Félix war der bei weitem umtriebigste der drei, arbeitete zudem als Feuilletonist und überaus produktiver Karikaturist, und kannte alle maßgeblichen Schriftsteller und Künstler der Zeit. Vor allem seine fotografischen Schriftstellerporträts machten ihn schnell bekannt und lockten viele weniger Berühmte vor seine Linse. Wer etwas auf sich hielt, ging zu Nadar.

Nadar-Félix allerdings gab sich mit diesem irdischen Ruhm nicht zufrieden, er suchte auch den über- und unterirdischen. Als begeisterter Luftschiffer verfeuerte er fast sein ganzes Vermögen bei dem Versuch, mit seinem Heißluftballon "Géant" die Welt zu bereisen. Sein Abstieg in die Katakomben von Paris diente ihm als Werbung für seine Entwicklung der Fotografie bei künstlichem Licht. Neben den Luft- und Untergrundaufnahmen nimmt Bernd Stiegler neun weitere Werkgruppen der Tournachons in den Blick, um auf diese Weise eine Art Panorama der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts zu entfalten. Die Industrialisierung der Landwirtschaft thematisiert er anhand von Kuh-Bildern Adrien Tournachons, das Interesse für Fragen der Physiognomie anhand von Kompositfotografien - übereinandermontierten Aufnahmen mehrerer Personen - die Familienähnlichkeiten oder auch den Typus des Verbrechers erkennbar machen sollten.

Mindestens drei zentrale Aspekte der Pariser Moderne aber kommen in diesem Nadar-Band praktisch nicht vor: Der Umbau der Stadt durch Baron Haussmann, der Krieg von 1870/71 und die soziale Frage. Die Nadars haben leider eben keine Architektur- und Abrissfotografie betrieben, sind nicht mit Kamera und Stativ aufs Schlachtfeld gezogen und auch von Webereien und Hochöfen hielten sie sich fern.

Gerade dem großen Félix, so der Eindruck, ging es weder um ein Bild seiner Zeit oder um eine bestimmte Sache wie die Porträtkunst an sich, ihm ging es um den eigenen Ruhm, das gute Auskommen und die Möglichkeit, sich in der Pariser Bohème als gleicher unter gleichen zu bewegen. Auch Stiegler geht es in seinem von Redundanzen und Druckfehlern leider nicht ganz freien Buch weniger um die Fotografie als schöne Kunst. Dabei wäre es interessant zu erfahren, was die Fotografen Nadar in ästhetischer Hinsicht besonders auszeichnet, gerade im Verhältnis zur bildenden Kunst und im Vergleich zu anderen Fotografen der Zeit, denn die waren in Paris um 1860 bereits Legion. So präsentiert Stiegler einen durchaus interessanten, insgesamt aber doch unbefriedigenden Ausschnitt der Fotografiegeschichte des 19. Jahrhunderts und ihrer Stellung innerhalb der Pariser Moderne.

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