Süddeutsche Zeitung

Fotografie & Spektakel:Pferde in Auflösung

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Felicitas und Norbert Herold haben den "Palio" in Siena fotografiert - und ihre Bilder ins Säurebad der Zeit gelegt. Herausgekommen ist seltsamerweise ein Buch, das zeitlos wirkt. Wie war das möglich?

Von Bernd Graff

Der "Palio di Siena" ist ein Pferderennen, das in jedem Sommer in jener toskanischen Stadt ausgetragen wird. Das stimmt und stimmt nicht. Denn der Palio ist mehr als ein bloßes Rennen, er ist ein Kampf zu Pferde, das Erlebnis einer archaischen, körperlichen Unmittelbarkeit von Sieg und Niederlage in jener gotischen Umgebung, in der die älteste noch existierende Bank der Welt ansässig ist. Und er ist - wir sind in Italien - ein tagelanges, rauschendes Fest.

Angeblich reichen die Anfänge des Palio bis ins elfte Jahrhundert zurück, die mittelalterlichen Wappen der 17 am Palio beteiligten Stadtmannschaften deuten das an. Man begeht das oft blutige Rennen zweimal im Jahr zu Ehren der Jungfrau Maria. Um Geld soll es nicht gehen, der Sieger erhält eine bunte Standarte. Die Reittiere für die Contraden, die Stadtteile Sienas, werden ausgelost, die Jockeys gemietet. Geritten wird unter fantastischen Namen und Bannern, meist sind es mythische, exotische, und - gerade für ein Pferderennen - auch absurde Wappentiere (Wald, Muschel, Welle, Raupe, Schnecke, Einhorn).

Das Zentrum der Stadt, die Piazza del Campo, wird zur D-förmigen Bahn, etwa 300 Meter lang, ausgelegt mit Tuff und Sand, damit die Pferdehufe Halt finden. Nicht das schnellste Pferd gewinnt, sondern das glücklichste mit dem wagemutigsten, cleversten Reiter. Denn ein Sieg wird zugleich errungen wie verteidigt. Es darf auch das Pferd gewinnen, das seinen Reiter unterwegs abgeworfen hat. "Scosso" nennt man das, der Palio vom August 2019 wurde von einem Scosso gewonnen.

An die 60 000 Menschen verfolgen das kaum zwei Minuten lange Rennen, die meisten stehen im Inneren der Kreisbahn. Obwohl die Auswahl und Besetzung der Pferde, die Vorbereitung wie das Zeremoniell des Einzugs strikten Regularien und einem eng getakteten Zeitplan folgen, sind die ohne Sattel gerittenen Rennen völlig unberechenbar. Der Parcours ist so schwierig, dass fatale Stürze normal sind und in Kauf genommen werden, manche Kurven sind so scharf, dass Pferde oft ungebremst gegen Häuserwände laufen. Tierschützer beschweren sich deshalb nicht ohne Grund. An den schlimmsten Stellen hat man das Mauerwerk gepolstert.

Felicitas und Norbert Herold haben den Aufruhr von Siena fotografiert, doch ihr Sujet ist nicht das Spektakel mit Pferden, Jockeys, Flaggen und Kostümen. Ihr Sujet ist die Zeit. Ihre in Hundertstelsekunden geschossenen Bilder des Palio setzen sie dem Vergehen der Zeit aus, erproben, wie sie nach physikalischen Gesetzen das fotografische Material auffrisst und vernichtet. Der Ausgang dieses Experiments ist so ungewiss wie der eines Rennens.

Die Herolds haben den chemischen Vorgang der Entwicklung ihrer Diafilme über Jahre hinweg nicht gestoppt, sie haben ihr Material äußeren Einflüssen ausgesetzt und den Verfall sogar gefördert. Feuchtigkeit, Licht und Luft haben so immer weiter auf die Bilder eingewirkt, bis ihnen das Dokumentarische fast genommen war. Diesen im Wortsinn metamorphischen Prozess haben sie dokumentiert. Manchmal ist ihr Bildersturm soweit fortgeschritten, dass auf den Fotografien nur noch abstrakte Farbfelder erkennbar sind, Flecken und Schlieren von Realität. Wirklichkeitssplitter stecken in den Trümmern, ihren Kontext in Raum und Geschichte kann man kaum mehr erahnen.

Darum wirken die Bilder der Sammlung "Metamorfosi del Palio" wie Bruchstücke eines Ganzen, das verloren gegangen ist, wie Schemen in einem fremden Traum, dessen Bedeutung man nicht mehr festzuhalten vermag. Die Zeit, die den Palio gewinnt, scheint selber zeitlos zu sein.

Das "Palio-Protokoll" der Herolds ist kein Buch, sondern ein quadratischer Leporello im Schuber, 17 Tafeln lang, aufwendig in Mailand hergestellt und gedruckt. Diese - auch verlegerische - Kraftanstrengung stellt auch den Versuch dar, dem unkontrollierbaren Fraß der Zeit, den die Bilder dokumentieren, mit handwerklicher Sorgfalt wieder Einhalt zu gebieten und so ein Schnippchen zu schlagen. Dass es dabei dann auch chaotisch und lavalampenbunt zugeht, zeugt von der ungeheuren Kraft der Zeit - und des Palio.

Felicitas und Norbert Herold : Metamorfosi del Palio - Fotografische Metamorphosen des Palio. Kunstleporello im Schuber. +Knauss Verlag, München 2019. 34 Seiten, 36 Euro .

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Quelle:
SZ vom 19.12.2019
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