Süddeutsche Zeitung

Fotografie:Im Reich von König Ubu

Lange Zeit war sie nur als Muse Picassos bekannt. Jetzt präsentiert das Centre Pompidou in Paris umfassend das künstlerische Werk von Dora Maar. Im Zentrum stehen ihre Fotografien und Fotomontagen.

Von Joseph Hanimann

Jugendlich überbordende Unvoreingenommenheit gibt es für künstlerische Ausdrucksformen genauso wie für die Künstler selbst. Alles ist in einer solchen Situation möglich, so gut wie nichts verboten oder verpönt. Während der Zwischenkriegszeit befand sich die Fotografie in so einem Rauschzustand. Um das Jahr 1935 hatte die knapp dreißigjährige Dora Maar im Auftrag eines Kosmetikfabrikanten die Illustration für eine Hautcrème gegen Gesichtsfalten zu liefern. "Les années vous guettent", hieß der Slogan: Die Jahre lauern auf Sie. Die Künstlerin fotografierte dafür ihre Freundin Nusch Éluard, die zweite Ehefrau des surrealistischen Dichters, und legte in einer Zweitbelichtung ein Spinnennetz über ihr Gesicht.

So entstand ein surrealistisches Meisterstück, faszinierend und unheimlich, in dem Kommerz und künstlerisch avantgardistische Impertinenz noch ungetrennt beieinander wohnten. So war sie, die damals junge Fotografin. Jede Gelegenheit war ihr recht, um im Kreis von Kollegen wie Man Ray, Eli Lotar, Brassaï das neue Kunstgenre zum Strahlen zu bringen. Allgemein bekannt war Dora Maar, die 1907 als Henriette Théodora Markovitch in Paris geboren wurde, jedoch lange nur als Geliebte und künstlerische Komplizin Picassos. Er hatte von ihr ein paar berühmte Porträts gemalt wie die "Weinende Frau". Nach ihrem Tod 1997 wurde ihr Nachlass ziemlich rücksichtslos in alle Winde verstreut.

Erst allmählich hat eine systematische Sichtung des Werks von Doar Maar begonnen und nun zeigt das Pariser Centre Pompidou zusammen mit dem Paul Getty Museum in Los Angeles und der Tate Modern in London, wo die Schau ebenfalls zu sehen sein wird, zum ersten Mal ein umfassendes Panorama ihres Schaffens. Es bringt zugleich eine Überraschung und eine Bestätigung. Überraschend wirkt die außerordentlich kreative Schaffensenergie dieser Frau in den Anfangsjahren zwischen Mode- und Reportagefotografie, künstlerischer Avantgarde und surrealistischer Vision. Bestätigt wird hingegen der Verdacht, dass das Bedeutsame dieses Lebenswerks in der äußerst kurzen Zeitspanne von anderthalb Jahrzehnten zur Entfaltung kam und mit der Rückkehr zur Malerei in den langen Jahren danach eher einer Privattätigkeit Platz machte. Zwei Drittel des Ausstellungsraums und der 400 Exponate im Centre Pompidou sind folgerichtig den Fotoarbeiten der Dreißigerjahre gewidmet.

Ihren Geburtsnamen Henriette Théodora Markovitch verkürzte sie schmissig auf drei Silben

In dem 1931 zusammen mit dem Filmkulissenbildner Pierre Kéfer gegründeten Fotostudio nahm die vierundzwanzigjährige Dora Maar, die ihren Geburtsnamen schmissig auf drei Silben verkürzte, alle möglichen Aufträge an, von der Mode- und Werbefotografie bis zur Aktfotografie für erotische Magazine. Damen mit geschmeidigen Körpern in Luxusroben oder bei der Gymnastik im Badekleid neben der gekräuselten Wasseroberfläche am Schwimmbeckenrand stecken die Stereotypen der "neuen" Frau ab. Die Bürgertochter Markovitch, die ihre Kindheit zwischen Paris und Buenos Aires verbracht und dann die Mädchenkurse der Pariser Union centrale des arts décoratifs absolviert hatte, war durch ihre frühen Berufserfolge selber zum Beispiel einer modernen Frau geworden. Der Filmregisseur Henri Georges Clouzot nahm sie in seinem Krimi "Quai des Orfèvres" 1947 als Vorbild für die Figur der lesbischen Fotografin Dora Monnier.

So bereitwillig Dora Maar aber für alle Art von Aufträge zu haben war, so selbstsicher brachte sie ihren stilistischen Eigenwillen mit ins Bild. Bei den Modefotos diente ihr der Scheinwerfer mitunter als mitinszeniertes Requisit. Und wenn sie für Herrenmagazine wie "Beauté" oder "Séduction" mit oft anzüglichen Textlegenden den nackten Körper des Models Assia Granatouroff ins Bild setzte, verfremdete sie die Darstellung durch harte Schlagschatten auf der Wand. Deshalb erscheint auch der Wechsel zu den Reportagebildern von Lumpensammlern, Bettlern und Arme-Leute-Kindern, die Dora Maar mit ihrer Rolleiflex in diesen Jahren in Paris, Barcelona oder London aufnahm, nicht als Bruch, sondern als erweiterter Blick. Statt in den Horizont futuristisch geklärter Stadtvisionen stellte Dora Maars Moderne sich eher in Baudelaires Perspektive des "Vieux Paris", das gerade verschwindet, in verlorenen Hauswinkeln, Höfen und Ladenvitrinen von André Bretons Stadtbrachen bis zur Opernpassage in Louis Aragons Roman "Le Paysan de Paris" surreal weiter flimmert.

Dora Maars Magie der Fotomontage in der Folge von Max Ernst und Georges Hugnet erreichte ihren Höhepunkt in ihren surrealistischen Arbeiten. Das 1936 bei der Surrealistenausstellung der Pariser Galerie Charles Ratton gezeigte "Portrait d'Ubu", ein halb ulkiges, halb widerliches Tierwesen, wahrscheinlich ein Gürteltierfötus, ist zur Ikone der surrealistischen Bewegung geworden. Ebenso interessant ist das ein Jahr zuvor entstandene Blatt "Le Simulateur", auf welchem die Künstlerin in einen schneckenhausartig gewundenen Spiralraum - die Umkehrung eines Gewölbefotos aus dem Schloss Versailles - einen in Barcelona geknipsten Knaben in verdrehter Körperhaltung hineinmontierte.

Entscheidend war für Dora Maar die Begegnung 1936 mit Picasso. Ihr Verhältnis zu ihm stand von Anfang an im Zeichen der künstlerischen Gegenseitigkeit. Sie machte ihn mit den fotografischen Techniken in der Dunkelkammer vertraut. Er malte Bilder von ihr und sie von ihm, mitunter in direkter Anlehnung an die "Doppelporträts", die Maar ein Jahr zuvor in ihrem Studio geknipst hatte. Auch hielt sie im Frühjahr 1937 fotografisch die verschiedenen Entstehungsphasen von Picassos Bild "Guernica" fest und meisterte dabei souverän die Beleuchtungsprobleme im dunklen Atelier der Pariser Rue des Grands-Augustins. Die Kuratoren des Centre Pompidou waren gut beraten, sich bei dem relativ bekannten Picasso-Kapitel in Dora Maars Existenz knapp zu fassen und das Gesamtbild ihres Werks im Auge zu behalten.

Umso offensichtlicher zeigt sich im Kontrast das, was in den fünfzig verbleibenden Lebensjahren auf den rauschhaften Anfang folgte. Angeregt wohl durch das Zusammenleben mit Picasso fand die Künstlerin zum Zeichnen und Malen ihrer Lehrjahre zurück. Es entstanden zunächst oft Stillleben in schmutzigen Grau- und Brauntönen mit Zubern, Krügen und Bürsten. Die bedrückte Stimmung dieser Bilder scheint die Kriegsjahre zu spiegeln, bald wohl aber auch die wachsende Depression der Künstlerin.

Das Auseinanderleben der Beziehung zu Picasso, der 1944 mit Françoise Gilot auf eine andere Liebespartnerschaft zusteuerte, brachte die aus dem Gleichgewicht gefallene Dora Maar zeitweise in die Nervenklinik, mit Elektroschockbehandlung unter Anleitung von Jacques Lacan. Mit Picassos Hilfe konnte sie nach der endgültigen Trennung im Jahr 1945 ein Haus in Ménerbes kaufen und schloss, fortan zwischen Paris und der Provence pendelnd, neue Freundschaften, etwa mit dem Dichter André Du Bouchet oder dem Maler Nicolas de Staël. Das Malen und Zeichnen, unter anderem reizvolle Landschaftsbilder aus ihrer neuen Wahlheimat des Luberon, betrieb sie kontinuierlich weiter, zusehends aber als Privataktivität. Ausstellungsangebote lehnte sie ab, zerstörte wohl in den Fünfzigerjahren auch etliche Werke und zog sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück. Die einst selbstbewusste, freiheitsdurstige Frau mit dem dunkel eindringlichen Blick suchte Halt in religiöser Frömmigkeit und im Gebet, das sie neben dem Malen bis zuletzt praktizierte.

Fotografie und Malerei, die beiden Pole ihrer Künstlerexistenz, kamen in den späten Lebensjahren in der Gestalt kleinformatiger abstrakter Landschaftsimpressionen noch einmal zusammen. Sie scheinen aber nicht mehr an die Öffentlichkeit gerichtet zu sein. Als geniale Fotografin hatte Dora Maar im Wirbel ihrer frühen Schaffensjahre alles Wesentliche gesagt. Das nicht geringste Verdienst dieser Ausstellung ist es, einen Blick in diese späten Arbeiten zu gewähren, ohne sie zu einem verkannten Meisterwerk verklären zu wollen. Dora Maar war eine Künstlerin, die mit derselben Impulsivität die Bühne verließ, wie sie sie in jungen Jahren betreten hatte.

Dora Maar. Centre Pompidou, Paris. Bis 29. Juli. Katalog 39 Euro. Info www.centrepompidou.fr

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SZ vom 21.06.2019
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