Fotografie:Im Hinterland der Zeit

Winslow

Wenn Srodek-Hart einen Ort wie diese dunkle Billardkneipe in der Provinz La Rioja entdeckt hatte, baute er seine Plattenkamera auf, verschwand hinterm schwarzen Tuch und drückte auf den Auslöser.

(Foto: Srodek-Hart)

Ein Bildband erkundet die morbide Schönheit vergessener Orte in der argentinischen Provinz.

Von Alex Rühle

Der Raum hier wirkt wie aus einem Albtraum von Don Winslow, getränkt in Dunkelheit, die Säule wie ein Marterpfahl, dazu das vergitterte Fenster und im Hintergrund die Menschen an der Bar. Erst auf den zweiten Blick erkennt man auch am Billardtisch den Schemen eines Menschen, der hier kurz gestanden haben muss, aber längst wieder weg ist.

Die Fotos, die Guillermo Srodek-Hart in seinem Bildband "Stories" versammelt hat, sind Langzeitbeobachtungen in mehrfacher Hinsicht: Zehn Jahre lang fuhr der junge Fotograf, der in Buenos Aires lebt, durchs argentinische Hinterland, die sprichwörtliche Pampa, immer auf der Suche nach Orten, in denen die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, menschenleere Kneipen und Reparaturwerkstätten mit rostigen Werkbänken, kahle Besenlager, Friseursalons und merkwürdige Mischorte, an denen man gleichzeitig Bier trinken, Mehl kaufen, Fußballspiele anschauen und seinen Sattel reparieren lassen kann.

Immer wenn Srodek-Hart einen Ort wie diese dunkle Billardkneipe in der Provinz La Rioja entdeckt hatte, baute er seine Plattenkamera auf, verschwand hinterm schwarzen Tuch, bat die Besitzer, kurz aus dem Bild zu treten und drückte auf den Auslöser. Oder er belichtete eben so lange, bis die flüchtigen, zappeligen Menschen sich vor den tief in der Zeit versenkten, unbeweglichen Gegenständen auflösten.

So wirkt der Bildband in seinem opulenten Fleiß einerseits fast wie eine ethnologische Studie, ein Versuch, die Vergänglichkeit solcher Orte wenigstens im Foto aufzuheben, bevor die Globalisierung auch hier die letzten Tante-Emma-Läden, Bäckereien und Familienwerkstätten verdrängt.

Angefangen hat aber alles mit dem Tod: Als Srodek-Harts Großvater starb, merkte er, dass ihm nun nichts von ihm bleibt als seine Erinnerung und ein paar geerbte Gegenstände: Das Hörgerät, Kleidung, Fotos, Uhren . . .

Einige Zeit später machte er bei einer bizarr verkramten Fahrradwerkstatt Halt, um den Laden zu fotografieren. Es stellte sich heraus, dass der Besitzer nicht nur pensionierter Polizist war, sondern auch ein Monopol innehatte: Er war der einzige Steinmetz in der gesamten Provinz Santa Fe, der Grabsteine auf Jiddisch beschriften konnte. Als Srodek-Hart ihn fragte, was auf einem Grabstein in seinem Laden stand, übersetzte ihm der Mann: "Das Leben des Toten bleibt nur in der Erinnerung der Lebenden."

Der Satz könnte dem Band vorangestellt sein: Die großformatigen Bilder gleichen Zeitkapseln, viele der Shops, Bars und Werkstätten wurden mittlerweile abgerissen, mussten dem Fortschritt weichen, sind spurlos verschwunden und tauchen nun am anderen Ende der Welt, in der Druckerei des Prestel-Verlags wieder auf, farbenprächtig wie nie, so wie das ist mit schönen Erinnerungen.

Guillermo Srodek-Hart: Stories. Mit einem Vorwort von Anne Wilkes Tucker. Prestel Verlag, München 2015. 160 Seiten, 51,40 Euro.

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