Fotografie:Der perfekte Moment

Stillleben des Alltags: Die betont beiläufigen Fotografien von Stephen Shore sind jetzt in Berlin ausgestellt. Er beeinflusst Künstler bis heute.

Von Catrin Lorch

Eine unspektakuläre Komposition, angerichtet von einem Kellner: Das Geschirr ist mit ganz blöden Ornamenten in mattem Braun dekoriert, auf dem Furnier der Tischplatte steht noch ein glibberiges Glas Gelb, das kühle Orange einer frisch aufgeschnittenen Melone, links unten ragt das hellrote Plastikpolster eines Hockers unter dem Stillleben hervor. Keiner wird diese Morgenstimmung vergessen, die Stephen Shore am 10. August 1973 als "Trail's End Restaurant, Kanab, Utah" fotografiert hat.

Stephen Shore ist einer der ganz großen Namen der Fotografie-Geschichte. Dem im Jahr 1947 geborenen New Yorker kaufte Edward Steichen schon Fotografien für die Sammlung des Museum of Modern Art (MoMA) ab, als Shore noch ein Teenager war. Und als erstem lebenden Fotografen richtete ihm das Metropolitan Museum eine Ausstellung aus. Das C/O Berlin zeigt jetzt mehr als 300 Werke. Und setzt nicht etwa mit so beiläufigen Momenten ein wie dem "Trail's End", sondern beginnt im Zentrum der Avantgarde - in Andy Warhols Factory, die Stephen Shore noch in hartem Schwarz-Weiß fotografierte. Man ahnt schon, dass sich dieser Künstler nicht damit begnügen würde, am Ruhm des Studios teilzuhaben. Weil einer wie er die gesamte Fotografie in den Blick nimmt.

Als Walker Evans im Jahr 1971 im MoMA gefeiert wurde, richtete Stephen Shore parallel dazu eine Ausstellung in einem Loft in Manhattan aus: "All the Meat You Can Eat" ist, wie Marta Dahó im hervorragenden Katalog schreibt, "eine merkwürdige Sammlung von in willkürlicher Abfolge an die Wand gehängten Fotos", Polizeifotos, Familienfotos, Reisebilder; Porträts von Sängerinnen, Farmern, Haustieren. Dazu Porno, Werbung, russische Poster. Und private Fotos von Stephen Shore. Er hatte sich schon mit Konzeptkunst beschäftigt und entdeckte jetzt den Schnappschuss. Und er formulierte das Ideal einer "Snapschotness" in aller Natürlichkeit und Beiläufigkeit .

Stephen Shore wird der Schnappschusshaftigkeit auf endlosen Reisen auflauern, mit Plattenkameras und langen Belichtungszeiten. Als er so zu Serien wie "Uncommon Places" aufbrach, galt noch die knöcherne Kühle, die perfekte Balance des Schwarz-Weiß-Bildes, als der Maßstab künstlerischer Fotografie. Seine betont unkünstlerischen Stillleben, Interieurs und Veduten sollten die Farbe etablieren. Ein spürbarer Bruch: Vor allem die nach 1974 mit einer Plattenkamera aufgenommenen Bilder - im Format von ungefähr 50 mal 60 Zentimetern - sind regenfeucht und braunverschlissen. Motive, egal was, aber silbrig hell wie ein verchromtes Tischbein. Oder ein Kotflügel, der in der Sonne dampft vor grüner Wärme. Das sind Aufnahmen, die nicht nur Generationen von Dokumentaristen und Foto-Reportern geschult haben. Ihr Einfluss reicht bis in die Gegenwart, bis zum sublimen Kolorit eines Wolfgang Tillmans. Dessen Arrangements aus Glas, Licht und Grün wirken, als säße er an einem Tisch, den Stephen Shore gedeckt hat.

Stephen Shore. Retrospektive. Bis 22. Mai im C/O Berlin. Das Begleitbuch kostet 33,55 Euro (Kehrer).

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