Fotograf Toby Binder:"Tragödien, die im Stillen passieren"

Eine Dame mit einer goldenen Handtasche geht an einem obdachlosen Mädchen vorbei - es sind Momente wie dieser, die Toby Binder festhalten will. Weltweit sucht er nach Motiven. Im SZ.de-Fotografensteckbrief erzählt er, was ihn motiviert und wer ihn inspiriert.

Auf den Monitoren der SZ-Bildredaktion erscheinen täglich nahezu in Echtzeit Tausende Fotos von professionellen Agenturfotografen aus der ganzen Welt. Sie werden von uns, den Bildredakteuren, laufend gesichtet. Die meisten begleiten das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Tagesgeschäft nachrichtlich. Besonders spannend sind für uns die Bilder, die darüber hinaus gehen und regelmäßig von den großen Nachrichten- und Bildagenturen angeboten werden: Fotoreportagen aus dem In- und Ausland, die uns immer wieder Menschen über faszinierende Geschichten, kuriose Begebenheiten und exotische Länder nahebringen. Die Steckbrief-Reihe auf dem Bilderblog von Süddeutsche.de zeigt eine Auswahl dieser Arbeiten. Die Fotografen beantworten dazu einen standardisierten Fragebogen und zeigen eine Auswahl ihrer Arbeit.

Diesmal erzählt Toby Binder von seinen Lieblingsmotiven und seiner Begeisterung für Alltagssituationen.

1. Erzählen Sie uns die Geschichte zu Ihrem Lieblingsbild, was macht die Aufnahme so besonders?

Die Aufnahme entstand bei einer Familie, die auf den Straßen von Buenos Aires lebt. Auf meinem täglichen Weg von der Wohnung zur U-Bahn kam ich bei Roque und seiner Familie vorbei und aus anfänglich kurzen Gesprächen wurden ganze Nachmittage, die ich bei ihnen verbrachte. Auf dem Bild ist die älteste Tochter von Roque, Janina, mit ihrer Mickey Maus zu sehen.

Natürlich ist die Schere zwischen Arm und Reich in ganz Südamerika enorm, aber diese Familie kann sich nicht einmal eine Hütte in einem der Slums um Buenos Aires leisten. Ohne festen Wohnsitz können die Kinder nicht zur Schule gehen, von Polizei und Behörden werden sie immer wieder aus dem Stadtzentrum vertrieben, von vielen Passanten schlicht ignoriert oder gar beschimpft. Die Kinder scheinen jetzt schon zu wissen, was dies für ihre Zukunft zu bedeuten hat. Dieser eine Moment, als die Dame mit der goldenen Handtasche vorbeigeht, macht das Bild für mich als Einzelbild vielleicht besonders, weil die ganze Situation sich in diesem kurzen Moment widerspiegelt.

2. Wann und wie sind Sie zur Fotografie gestoßen?

Relativ spät. Während meines Grafik-Design-Studiums hatte ich bald keine Lust mehr, mit Fotos von anderen zu arbeiten und habe bemerkt, dass es mir viel mehr Spaß macht, die Geschichten selbst zu fotografieren - anstatt sie nur zu layouten. Ab da bin ich dann komplett auf Fotografie umgestiegen.

3. Haben Sie Vorbilder?

Das ist immer schwierig zu beantworten, da man einerseits ja versucht seinen eigenen Weg zu finden, andererseits gibt es aber so viele Fotografen, die einfach unglaublich beeindruckende Bilder geschaffen haben. Weegee, W. Eugene Smith oder auch Carl de Keyzer schaue ich mir immer wieder gerne an.

4. Wie finden Sie Ihre Themen?

Mein Interesse galt eigentlich von Beginn an Themen wie sozialer Gerechtigkeit, Flucht und Vertreibung oder auch dem Schwerpunkt Umwelt und Rohstoffe. Wenn man sich auf diese Bereiche fokussiert, stolpert man fast täglich über spannende Ansätze, die es dann in der Recherche zu vertiefen und auszuloten gilt. Fast immer interessieren mich dabei die Geschichten hinter der Headline; der Alltag der Menschen ist ja oft viel aussagekräftiger, kann aber in der Flut von großen Themen oft keine Beachtung finden.

5. Canon oder Nikon?

Canon, aber das war eigentlich Zufall. Ich denke, dass meine Arbeitsweise sehr viel mehr davon beeinflusst wurde, dass ich anfangs ausschließlich und bis heute gelegentlich mit einer Mamiya 645 fotografiere. Die Kamera ist langsam, Film- und Objektivwechsel braucht Zeit und man muss den richtigen Moment erwischen. Man kann nicht mal schnell aus der Hüfte schießen und muss sich erst das Vertrauen der Menschen und die Nähe zu ihnen erarbeiten. Das gefällt mir.

6. Das ikonographische Bild (des Jahrhunderts)?

Theoretisch könnte es qualitativ wahrscheinlich jedes World Press Photo zum ikonographischen Bild des Jahrhunderts schaffen, dennoch verbinde ich mit dem Begriff eher Bilder aus einer Zeit, in der die Bilderflut noch geringer war und Momente wie der fallende Kämpfer von Robert Capa, die Erschießung eines wehrlosen Vietkong in Saigon von Eddie Adams oder die napalmverbrannten Mädchen von Nick Ut sich als DAS Bild eingebrannt haben.

7. Zoom oder Festbrennweite?

Ich fotografiere mit Festbrennweiten, was wahrscheinlich auch damit zu tun hat, dass ich eher langsam arbeite. Wenn ich mich in der Umgebung und Situation eingefunden habe, nehme ich mir die Zeit, mich dort hin zu bewegen, wo das Bild entstehen soll oder die entsprechende Brennweite zu verwenden. Wenn man sich tagelang mit seinen Protagonisten beschäftigt, gewinnt man ja auch ein Stück weit Vertrauen und kann sich dann frei bewegen, ohne dass man dann noch so bewusst als Fotograf wahrgenommen wird.

8. Bei welchem Ereignis wären Sie als Fotograf gerne dabei gewesen?

Einerseits gibt es natürlich unzählige Ereignisse der Geschichte, bei denen es spannend gewesen wäre dabei zu sein. Aber andererseits sind es ja gerade die alltäglichen Momente, die mich interessieren. Die Lebenssituationen von Menschen, die es eben nicht auf die Titelseite oder in Geschichtsbücher schaffen, über die aber trotzdem berichtet werden sollte. Teilweise auch die Tragödien, die im Stillen passieren - hinter den großen Schlagzeilen und Ereignissen.

9. Ihr Tipp für junge, zukünftige Fotojournalisten?

Ich glaube, wenn man sich mit Themen und Menschen auseinandersetzt, die einen wirklich interessieren und sich voll darauf einlässt, werden immer gute Geschichten dabei entstehen.

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