Fotograf Kristoffer Finn:"In den Nuancen lesen"

Als die Mauer fiel, war er noch zu jung, doch längst hat sich Kristoffer Finn seine Neugier zum Beruf gemacht. Er bildet die Lebenssituationen von Menschen ab - wie in seiner beeindruckenden Bilderreportage der harten Realität eines US-Städtchens im Ölboom. Im SZ.de-Fotografensteckbrief erklärt er seine Motive und Vorbilder.

Auf den Monitoren der SZ-Bildredaktion erscheinen tagtäglich und nahezu in Echtzeit abertausende Bilder von professionellen Agenturfotografen aus der ganzen Welt. Sie werden von uns, den Bildredakteuren, laufend gesichtet. Ein großer Teil dieses Bildmaterials sind Brot-und-Butter-Bilder, die das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Tagesgeschäft nachrichtlich begleiten. Unser besonderes Augenmerk und Interesse gilt darüber hinaus den abgeschlossenen Fotoreportagen aus dem In-und Ausland, die in regelmäßigen Abständen von den großen Nachrichten- und Bildagenturen angeboten werden, und die uns immer wieder Menschen in faszinierenden Geschichten, kuriosen Begebenheiten, exotischen Ländern nahebringen. Wir, die Bildredakteure der SZ, wollen Ihnen eine Auswahl der Fotojournalisten, die diese fantastische Arbeit machen, in unserer Steckbrief-Reihe auf dem Bilderblog von Süddeutsche.de vorstellen. Die Fotografen beantworten hierzu einen standardisierten Fragebogen und zeigen eine von ihnen selbst vorgenommene Auswahl ihrer Arbeit.

Diesmal steht der Fotograf Kristoffer Finn im Mittelpunkt. Er wird von der renommierten Fotografenagentur Laif repräsentiert.

1. Erzählen Sie uns die Geschichte zu Ihrem Lieblingsbild, was macht die Aufnahme so besonders?

Auf dem Bild, es gehört zu meinem jüngsten Projekt "Welcome to Williston - Letzte Hoffnung Ölboom", ist der kleine J. J. zu sehen. Auf der Suche nach einer Familie, die der Ölboom nach Williston gelockt hatte, bin ich auf die von J.J. gestoßen. Wie viele dort erhofft auch sie sich ein besseres Leben als das in ihrer Heimat, Louisiana. Die Mutter von J. J. erzählte mir von der abenteuerlichen Reise der vierköpfigen Familie, vom tiefsten Süden bis ganz in den hohen Norden. Zu dem Zeitpunkt, als ich sie kennenlernte, lebte sie in einem Trailer-Park. Selbst in solch einem Park aus langsam verfallenden Wohnwagen leben zu können, ist dort schon ein gewisses Privileg.

Der kleine Junge reagierte verstört auf die vom Öl-Boom gezeichnete Kulisse. Gemeinsam mit seiner Mutter und seiner Schwester verbrachte er meist den ganzen Tag im Trailer, während der Vater lange arbeitete. Ich habe drei Nachmittage lang mit J. J. und seiner Schwester gespielt, bis dieses Bild entstand. Für beide Kinder schien meine Anwesenheit eine mehr und mehr willkommene Abwechslung in ihrem tristen Alltag zu sein. Je mehr Zeit ich mit ihnen verbrachte, desto mehr erkannte ich, wie erdrückend das Milieu dort für sie war. Oft stelle ich mir die Frage, wie wohl ihre Zukunft aussehen wird, wie es um ihre Chancengleichheit bestellt ist. Diese Frage hat das Bild für mich sozusagen konserviert, denn auch noch mit einer gewissen Distanz stimmt es mich nachdenklicher als viele der anderen Bilder.

2. Wann und wie sind Sie zur Fotografie gestoßen?

Ich war wahrscheinlich ungefähr vier Jahre alt, als ich angefangen habe, bewusst die Tageszeitung wahrzunehmen. Sie lag jeden Tag ab morgens auf dem Tisch, bis mein Vater sie nach der Arbeit gelesen hat. Die Bilder darin hatten mich schnell in ihren Bann gezogen - ich fragte meine Eltern aus, was auf den jeweiligen Bildern zu sehen war. An ein konkretes Bild kann ich mich noch gut erinnern, es war die Luftaufnahme einer brennenden Offshore-Bohrinsel; mein Vater hatte eine ganze Menge zu erklären. Das Betrachten von Fotografien war für mich damals ein "Fenster zur Welt". Sie gaben mir, und tun es auch heute noch, eine Idee von den Dingen, Geschehnissen und Vorgängen um mich herum.

Obwohl meine Faszination für Fotografie erhalten blieb, machte ich nach der Schule eine Ausbildung zum Mechaniker. Später gab ich meine Anstellung auf, um bei Prof. Rolf Nobel an der HS Hannover zu studieren. Dort habe ich den Eindruck gewonnen, dass einige meiner damaligen Kommilitonen über Reisen zur Fotografie gekommen sind. Bei mir war es andersherum, mich bewegt das Fotografieren mehr und mehr zum Reisen, denn es ist ein gesellschaftlich legitimiertes Mittel, um mit Neugier loszuziehen und Blicke in das Leben Anderer zu werfen; dorthin wo ein gewöhnlicher Reisender eigentlich nicht hinschaut.

3. Welche Vorbilder haben Sie?

Es gibt verschiedene Fotografen, die ich stark finde, Sebastião Salgado zählt dazu. Es ist beeindruckend, wie er sich in seinen Fotografien für diejenigen einsetzt, die am industriellen Fortschritt nicht teilhaben können. Salgado begegnet seinen Protagonisten mit Empathie und Mitgefühl. Das sind wichtige Voraussetzungen, um die Kritik, die in Bilder deutlich wird, nicht auf die Menschen selbst zu beziehen, sondern auf ihre Lebensbedingungen. In Salgados Arbeiten gelingt solch ein emotionaler Zugang durch Nähe; dieser soll vom Betrachter sicherlich auch nachempfunden werden. Um einen solchen Zugang zu finden, ist es wichtig, Zeit mit den Protagonisten zu verbringen und sich längerfristig mit ihnen auseinander zu setzten. Auf diesem Wege können Bilder entstehen, die in die Tiefe gehen und dabei vielleicht auch einen unerwarteten Einblick geben.

Menschen zu fotografieren, um eine Aussage über sie zu treffen, ist etwas sehr Persönliches. Deshalb ist es bedeutend, wie man ihnen begegnet - sowohl im Moment der Aufnahme als auch später in den Bildern, die präsentiert werden. Während meiner Zeit in Williston hatte ich die Freude, Eugene Richards kennenlernen zu können. Im Gegensatz zu anderen Pressefotografen wirkte er unaufdringlich und unaufgeregt. Richards nahm sich Zeit, um etwas über diejenigen zu erfahren, die seine Protagonisten waren, und gab ihnen bestimmt auch die Chance ihn etwas kennenzulernen. Ich finde das elementar, zumindest wenn man sich sozialen Themen widmet.

4. Womit beschäftigen Sie sich in Ihrer fotografischen Arbeit bevorzugt?

Mit Menschen in ihren Lebenssituationen, die ich mit einer journalistischen Intention beobachte. Dabei hat das Individuum meine Aufmerksamkeit; ich mag es, in den Nuancen, z. B. einem Gesichtsausdruck, einer Körperhaltung oder auch der Art und Weise wie Protagonisten zueinander im Raum stehen, zu lesen. Das kann in einem ganz eng gefassten Porträt, aber auch durch Einbetten in eine Landschaft passieren. Ich gehe dabei situativ und wenig statisch vor, ich begebe mich in Situationen, von denen ich ein gewisses Potential annehme. Diese Situationen können vor der Haustür sein oder auch auf einem anderen Kontinent.

5. Wie finden Sie Ihre Themen?

Es gibt Fragen, die unsere Gesellschaft beschäftigen. Durch Journalisten, wie ich selber einer bin, hat man eine Idee davon im Kopf. Es gehört für mich also dazu, täglich ein gewisses Maß an Nachrichten zu lesen, zu hören oder zu schauen. Dabei stoße hin und wieder auf Geschichten, die nur kurz abgehandelt werden, aber eigentlich eine tiefer gehende Auseinandersetzung verdient haben. Wenn mein Interesse geweckt ist, stellen sich Fragen zu Umsetzbarkeit und einem potentiellen Zugang, die sich aber letztendlich erst vor Ort wirklich beantworten lassen.

Meine Fotoreportage "Welcome to Williston - Letzte Hoffnung Ölboom" lagen gleich mehrere Themengebiete zugrunde, u. a. die Vereinigten Staaten zu Zeiten einer tiefen Krise, die unbändige Gier nach Öl und das Versprechen der Chancengleichheit des Amerikanischen Traums. All dies konzentriert auf einen kleinen Ort in North Dakota - Williston. In diesem konkreten Fall bin ich mit meinem damaligen Professor bei der Suche nach Themen für meine Abschlussarbeit auf kleinere Meldungen zu dem Thema in den Wirtschaftsresorts gestoßen; mit der menschlichen Seite des Ölbooms schien sich noch niemand genauer beschäftigt zu haben, auch fotografisch wurde das Thema bis zu diesem Zeitpunkt nicht eingehender betrachtet. Vieles sprach für eine Umsetzbarkeit und so ging ich das Risiko ein dort zweimal hin zu reisen, zu Beginn meiner ersten Reise hat ich auch keine konkrete Idee für die Umsetzung.

6. Was ist das perfekte Handwerkzeug, auf welches Gerät/welche Technik möchten Sie nicht verzichten?

Wichtiger als die modernste Kamera ist es, mit Neugier vor die Haustür zu gehen, um sich mit einem Thema auseinanderzusetzten. Bei meiner Arbeitsweise entstehen die Bilder dann situativ. Dabei habe ich festgestellt, dass eine Kleinbildkamera mit einem 35mm-Objektiv meistens das richtige "Gerät" ist, die Neugier ist so gesehen dann die richtige "Technik". Auf beides möchte ich nicht verzichten.

7. Ihr ikonographisches Bild (des Jahrhunderts)?

Schwer zu sagen, da ich kein Fototheoretiker bin und es auch nicht das eine Bild gibt. An dieser Stelle kann ich die üblichen Namen, von Robert Capas fallendem Kämpfer im spanischen Bürgerkrieg, bis hin zu Luis Sincos "The Marlboro Marine" nennen; sie sind eben Teil eines kollektiven Gedächtnisses geworden. Persönlich rechne ich trauriger Weise einem aktuellen Bild hohes Potential zu, es ist die Aufnahme, die Taslima Akhter von den beiden Opfer des Fabrikgebäudeeinsturzes im April diesen Jahres in Bangladesch gemacht hat. Sie halten sich in den Armen und sind unter Trümmern begraben. Das Bild verfolgt mich.

8. Bei welchem Ereignis wären Sie als Fotograf gerne dabei gewesen?

Der Mauerfall wäre bestimmt interessant gewesen, nur war ich damals zu jung.

9. Ihr Tipp für junge, zukünftige Fotojournalisten.

Haltet die Flamme am Lodern! Es wird bestimmt nicht einfacher, mit Fotojournalismus seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

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