Foto-Serie "Atomic Overlook":Bombige Aussichten

Wenn ein schlimmer Unfall passiert, bleiben Menschen stehen und gaffen. Ganze Filme haben sich schon damit beschäftigt. Nun hat Fotograf Clay Lipsky das Phänomen weitergedacht. In seiner Bilderserie "Atomic Overlook" begegnen wir der absurdesten Gattung aller Gaffer: Atompilz-Touristen.

Ruth Schneeberger

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Fotos, Atomic Overlook Clay Lipsky

Quelle: Clay Lipsky

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Wenn ein schlimmer Unfall passiert, bleiben Menschen stehen und gaffen. Ganze Filme haben sich schon damit beschäftigt. Nun hat Fotograf Clay Lipsky das Phänomen weitergedacht. In seiner Bilderserie "Atomic Overlook" begegnen wir der absurdesten Gattung aller Gaffer: Atompilz-Touristen.

Alle Bilder: atomic-overlook.com

Atomic Overlook

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The Gathering heißt ein US-Kinofilm aus dem Jahre 2002, in dem es neben düsterem Mystery-Thrill und Hauptdarstellerin Christina Ricci vor allem um eines geht: die Sensationsgier der Menschen. Die junge Cassie (Ricci) findet heraus, dass nicht nur die seltsamsten Gestalten in ihrer Umgebung ständig herumstehen und gaffen, wenn irgendwo ein Unglück passiert. Sondern am Ende auch sie selbst.

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Dem Reiz, der eigenen Neugier nachzugeben, auch wenn Anstand und Sitte es eigentlich verbieten, erliegen die Menschen immer wieder. Polizei und Feuerwehr erleben diesen Umstand regelmäßig bei schweren Verkehrsunfällen: Menschenmassen sammeln sich um die Unfallstelle und blockieren mit ihrer unverrückbaren Neugier die Anfahrt, anstatt zu helfen.

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Der Fotograf Clay Lipsky hat nun in einer Fotoserie dieses Phänomen noch ein Stück weitergedacht: Wir sehen Familien, Liebespaare, Touristen, Kinder, ...

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... ganz normale Menschen also, aber immer ohne Gesicht, weil von hinten. Das typische Bild von Sightseeing-Reisenden - mit einem kleinen Unterschied.

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Denn was die Touris auf Lipskys Bildern so euphorisch betrachten, ist kein Sonnenaufgang, sondern eher ein Untergang. Und zwar womöglich der der Menschheit.

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Der Künstler platziert in Blickrichtung harmloser Urlaubsreisender mittels Fotomontage die spektakulärsten Atombombenexplosionen. 

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In Wirklichkeit hat es solche oberirdischen Kernwaffenexplosionen - im Einsatz gegen Menschen - bisher ausschließlich in Hiroshima und Nagasaki gegeben, mit denen die USA 1945 Japan in die Knie zwangen und den Zweiten Weltkrieg besiegelten. Diese Atombomben töteten auf der Stelle fast 100.000 Menschen, weitere 130.000 Menschen starben noch im selben Jahr an den Folgen des Angriffs, zahlreiche weitere an Folgeschäden in den Jahren danach.

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Atombombentests allerdings gab es viele weitere: Vor allem die USA und die Sowjetunion versuchten sich zu Zeiten des Kalten Krieges an der Atombombe. In den fünfziger Jahren, als die Auswirkungen oberirdischer Kernwaffenexplosionen noch nicht hinreichend bekannt waren, wurden der physikalische Ablauf und die militärisch beabsichtigte Wirkung zahlreich zu Forschungszwecken ausprobiert. Allein auf dem eigens dafür erschaffenen Testgelände in Nevada fanden im Jahr 1953 elf solcher oberirdischer Atomtests statt. Welche verheerenden Folgen die Atombombe in medizinischer, wirtschaftlicher, psychologischer und sozialer Hinsicht haben sollte, das merkte die Welt dann erst im Ernstfall.

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Trotzdem wurde auch nach Hiroshima und Nagasaki während des Kalten Krieges die Atombombe noch jahrelang oberirdisch weitergetestet - im Zuge des Wettrüstens zwischen Super- und Atommächten. Weil der jeweils erste Test eines Landes zugleich als sichtbarer Nachweis dafür gilt, dass es eine Atommacht und in der Lage dazu ist, eine Atombombe zu bauen, wurden von USA, Großbritannien, Frankreich, Sowjetunion und China sowohl auf unbesiedeltem als auch in der Nähe von besiedeltem Gebiet Atombomben zu Test- und Demonstrationszwecken weithin sichtbar und oberirdisch gezündet. Der daraus resultierende radioaktive Niederschlag verteilte sich weltweit über die Testgebiete hinaus. Die atomaren Tests des 20. Jahrhunderts haben die Hintergrundstrahlung von Radioaktivität weltweit messbar angehoben. Das allgemeine und brandgefährliche Wettrüsten mit Atompilzen fand mit dem Moskauer Atomteststoppabkommen 1963 ein Ende, als die Sowjetunion, die USA und Großbritannien einen Vertrag über das Verbot von Kernwaffenexplosionen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser unterzeichneten, um weitere Fallouts und noch schlimmeres Wettrüsten zu verhindern.

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Unterirdisch wurde die Atombombe allerdings weiter getestet. Allein auf dem "Nationalen Sicherheitsgelände" in Nevada fanden bis zu einem Teststopp-Memorandum 1992 rund 1000 solcher Tests unter Tage statt - für das Auge der meisten Menschen unsichtbar. Sehr sichtbar hingegen ...

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... sind die Feuerbälle in ihren unterschiedlichen Ausprägungen auf den Bildern von Clay Lipsky, der als Fotograf und Grafikdesigner in Los Angeles arbeitet. Aufgewachsen in den USA während der heißen Phase des Kalten Krieges, ist dem Künstler die Bedrohung durch die nukleare Sprengkraft quasi in die Wiege gelegt worden - nun lässt er sie optisch nachwirken. Und kleidet den Atompilz in neue Kleider, indem er ihm eine aktuelle Umgebung auf den Leib schneidert: Typische Touristen an typischen Touristenorten.

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Damit nimmt er der atomaren Explosion auf den ersten Blick das Grauen: Wenn ganz normale Menschen an allen möglichen Orten auf der Welt ständig Atompilze bewundern, kann das doch alles so schlimm nicht mehr sein. Hat die Menschheit auf Lipskys Bildern den atomaren Schrecken gar überwunden?

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Mitnichten: "I can only hope that mankind will never again suffer the wrath of such a destructive force, but it is clear that the world would not hesitate to watch", schreibt Lipsky über seine Arbeit ("Ich kann nur hoffen, dass die Menschheit nie mehr solch eine zerstörerische Kraft erleiden muss, aber es ist klar, dass die Welt nicht zögern würde, dabei zuzusehen."). Damit offenbart er nicht nur den Irrsinn des atomaren Zeitalters, dessen Ende durch den Atomkonflikt zwischen Israel und Iran aktuell schon wieder infrage gestellt wird, ...

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... sondern gleichzeitig den Voyeurismus im modernen Informationszeitalter - dessen Teil er selbst ist. The world would not hesitate to watch - die Welt, die nicht zögern würde, bei ihrem eigenen Untergang zuzusehen: Für Lipsky ist sie ziemlich greifbar.

Die inzwischen insgesamt neun "Atommächte" auf der Welt ( USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, China, Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea) verfügen nach Schätzungen über rund 19.000 Atomsprengköpfe - genug Stoff, um die Menschheit mehrfach zu vernichten. Die Weiterverbreitung von Kernwaffen gilt als eine der größten Herausforderungen für die internationale Sicherheit des 21. Jahrhunderts.

Weitere Infos über den Künstler: GoClayGo.com

© Süddeutsche.de/rus/cag
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