Süddeutsche Zeitung

Foto-Ausstellungen in Bologna:Was starke Arme wollen

In Bologna sind vierzehn Fotoausstellungen zum Thema "Arbeit" zu sehen. Sie zeigen ästhetische, politische und sozialkritische Fotografien. Vor allem aber erinnern sie daran, welche Welten verschwunden sind.

Von Thomas Steinfeld

Nicht weit von der Piazza Maggiore, dem großen Platz im Zentrum Bolognas, steht eine spätbarocke Kirche, in deren Oratorium gegenwärtig eine Fotoausstellung zu sehen ist. An der Decke wird die biblische Geschichte bebildert, im Gewölbe vor der Rückwand steht eine Gruppe von Terracotta-Figuren, die den leiblichen Aufstieg Marias in den Himmel darstellen. In Menschenhöhe aber wird eine Serie von Fotografien gezeigt, die Mimmo Jodice in den Siebzigern in Neapel aufnahm. Es sind eindrucksvolle Bilder: Man sieht einen vielleicht Fünfzehnjährigen, der auf der Straße geschmuggelte Zigaretten verkauft und dabei ein Gesicht von außerordentlicher Verschlagenheit macht (es gibt solche Gesichter heute nicht mehr), einen ausgemergelten Hutmacher, der kleine, steife Kopfbedeckungen gegen Vorkasse herstellt, oder Kinder, die in einer Metallwerkstatt arbeiten.

Offen programmatisch unter diesen Fotografien ist nur das erste Bild. Es ist zweimal vorhanden, einmal in einem gewöhnlichen Format, ein zweites Mal in Wandhöhe aufgezogen und direkt in den Aufgang gestellt: Die Kamera blickt von oben auf Tausende Menschen, wie sie im Jahr 1976 auf einer "Festa dell'Unità" einem Redner - oder steht dort vor ihnen, außerhalb des Bildes, vielleicht doch ein Musiker? - zuhören, und so gebannt sind sie offenbar von dessen Darbietung, dass die Gemeinschaft wie in einem strengen grafischen Muster eingefroren scheint.

"Foto/Industria" nennt sich die Veranstaltung, die alle zwei Jahre stattfindet

Es gibt die Feste dell'Unità zwar wieder, auch in Bologna, der Stadt, die einmal das Zentrum der kommunistisch gesinnten Emilia Romagna war. Aber sie widmen sich heute eher diffusen sozialdemokratischen Idealen oder schlicht der Unterhaltung (die allerdings früher auch eine große Rolle spielte), während das alte Fest der Einheit der Werktätigen huldigte und letztlich der Finanzierung von L'Unità, der Parteizeitung der Kommunisten, diente.

Mit dem Ende des alten Festes aber schienen nicht nur die Arbeiter verschwunden zu sein, sondern auch die vielen Genossen, die sich in anderen Schichten der Gesellschaft für das Auskommen der Arbeiter einsetzten. Und obwohl seit jenem Ende nur zwanzig oder dreißig Jahre vergangenen sind, scheint es sehr weit zurückzuliegen, so weit, dass man angesichts dieser Fotografie erschrickt: Denn man weiß ja noch, dass es solche Ereignisse gab, dass sie groß und zahlreich waren und dass sie wirkten, als ginge von ihnen eine Veränderung der Welt aus. Aber es ist nunmehr, als hätte man diese Arbeitswelt mitsamt ihren repräsentativen Veranstaltungen nicht nur vergessen, sondern als wären sie von der Geschichte verschluckt worden.

Vierzehn Fotoausstellungen zum Thema "Arbeit" sind gegenwärtig in Bologna zu sehen, die meisten davon in der Altstadt, in der Universität, in Museen, in Palazzi, in einem ehemaligen Waisenhaus und eben in der spätbarocken Kirche an der Piazza Maggiore. Sie gehören zu einer Veranstaltung, die sich "Foto/Industria" nennt, alle zwei Jahre stattfindet und in diesem Herbst zum dritten Mal ausgerichtet wird. Der Eintritt ist frei, man muss sich allerdings registrieren lassen und bekommt daraufhin eine blaue Marke um den Hals gehängt. Tausende Menschen sieht man mit solchen Plaketten durch die Arkaden Bolognas ziehen, von Station zu Station. Was interessiert sie an Bildern physischer Arbeit, die in dieser Gestalt auch in Neapel längst der Geschichte anheimgefallen ist? Warum schauen sie sich, vermittelt über die Fotografien des Tschechen Josef Koudelka, die Verwüstungen an, die das Graben nach Braunkohle in der Lausitz anrichtete? Und was treibt sie dazu, die Bilder von Schläuchen und Trommeln aus rostfreiem Stahl zu betrachten, die der schwedische Fotograf Mårten Lange aus Laboratorien für Nuklearphysik zusammentrug?

Dass diese Aufnahmen, in ihrer Mehrheit zumindest, nicht nur ästhetisch interessant sind, sondern auch eine Auskunft über den Zustand der Welt enthalten, ist eine Sache. Eine andere ist es, dass sich im Begriff der Arbeit offenbar ein alles andere als erledigtes Problem verbirgt: Unübersehbar ist, dass die physische Arbeit der Vergangenheit angehört, während die zeitgenössische Arbeit keinen Arbeiter mehr kennt.

Und offensichtlich ist auch, dass sich das Publikum über diesen Wandel nicht beruhigen kann.

Die Biennale in Bologna ist die einzige regelmäßig stattfindende Veranstaltung auf der Welt, die der Fotografie der Arbeit und der Industrie gewidmet ist. Sie gründet in einer einzigartigen Institution, nämlich der "Mast" - der Manifattura di arti, sperimentazione e tecnologia (Manufaktur der Künste, des Experimentierens und der Technologie) -, einer privaten Stiftung, die einem der großen Industrieunternehmen der Emilia Romagna zugehört, einem Konzern namens Coesia, dessen Firmen hauptsächlich Verpackungsmaschinen herstellen.

Der Arbeitslose steht dem Arbeitenden ferner als der Mittellose dem Zahlungsfähigen

Eine der Fabriken - vor fast hundert Jahren als Motorradhersteller GD entstanden - befindet sich im Westen von Bologna. Davor wurde vor einigen Jahren ein moderner, architektonisch anspruchsvoller Bau errichtet, der nicht nur eine Kantine für mehr als tausend Mitarbeiter beherbergt, einen Kindergarten, ein Fitnessstudio und etliche Seminarräume, sondern auch zwei Ausstellungssäle, ein Auditorium und eine Art Werkstatt, in der Kinder und Jugendliche an den Umgang mit modernen Industriemaschinen herangeführt werden sollen. Die Stiftung kümmert sich um ein künstlerisches und intellektuelles Programm, das sich auf Fragen der Geschichte und der Zukunft von Arbeit konzentriert, in systematischer Nähe zur Fotografie, denn der Bau enthält eine Sammlung von Fotografien der Arbeit und der Industrie - die einzige der Welt. Möglich wurde die Fondazione Mast, weil die Eigentümerin des Konzerns Coesia einen anderswo längst vergangenen Unternehmertypus verkörpert: Isabella Seràgnoli leitet nicht nur die Stiftung, sondern ist auch Präsidentin des Konzerns.

Erstaunlich an ihrem Unternehmen ist nicht nur, dass die Produktionsanlagen noch in Italien stehen und nicht in Rumänien oder in China. Erstaunlich ist auch, wie sehr dieses Unternehmen an der Idee der Fabrik festhält - an einer Form der Produktion mithin, die ein hohes Maß an innerer Organisation fördert, die Arbeiterbewegung eingeschlossen, die sich deutlich nach außen abgrenzt und die darüber hinaus stets mehr bedeutet als nur Industrie, insofern sie sich nämlich immer auch als sozial und kulturell bestimmtes Gemeinwesen gestaltet.

Wenn sich die Stiftung mit dem Begriff der Arbeit beschäftigt, im eigenen Haus, betreibt sie innerhalb der Wirtschaft Außerordentliches: eine sowohl gedankliche als auch ästhetische Auseinandersetzung mit dem eigenen Tun als Unternehmen, als Fabrik, als Ort der Arbeit unter kapitalistischen Voraussetzungen. Das Wissen um die Tatsache, dass von der Arbeit die stärkste Kraft zur Integration in die Gesellschaft ausgeht, stärker sogar als die Kraft, die dem Geld innewohnt, bildet die Voraussetzung dieses Engagements. Der Arbeitslose steht dem Arbeitenden ferner als der Mittellose dem Zahlungsfähigen, und vielleicht dachte François Hebel, der Direktor der Foto/Industria, in Allegorien, als er ein Werk des spanischen Künstlers Joan Fontcuberta in die Schau aufnahm: Es rekonstruiert das (erfundene) Schicksal des Kosmonauten Ivan Istochnikov, der im Jahr 1968 im Weltall verloren gegangen sein soll.

Die Fotografie der Arbeit und der Industrie sei bislang nicht zu einem Gegenstand des Sammelns geworden, erklärt Urs Stahel, der Kurator der Sammlung und der Ausstellungen der Mast, weil sie sich in mindestens drei Gebiete teile. Er muss es wissen, denn er leitete zwei Jahrzehnte lang das Fotomuseum in Winterthur, das für die Erschließung der Fotografie als Kunstform in Europa grundlegende Bedeutung besitzt. Fabriken in einem älteren Sinn hätten oft eigene Fotografen, gar fotografische Abteilungen beschäftigt, sagt er, die handwerklich ausgebildet waren und über Studiobedingungen verfügten. Ihre Arbeiten seien maßgeblich gewesen für einen Zweig der Arbeits- und Industriefotografie, die sich ihren Gegenständen mit (verkaufs-)ästhetischen Absichten näherte. Ähnliches gelte für den Arbeitskult des realen Sozialismus, für den innerhalb der Biennale Werke des sowjetischen Fotografen Alexander Rodtschenko stehen.

Auf der anderen Seite stünden die realistischen, oft politisch motivierten Werke der Dokumentaristen unter den Fotografen der Arbeit, Mimmo Jodices etwa oder des Amerikaners Lee Friedlander, der mit einer Serie: "At Work" in Bologna vertreten ist. Wenn Michele Borzoni den Untergang der italienischen Industrie in den vergangenen Jahren festhält, dann gelingt es ihm, dem Schrecken, den einst der Anblick der durch lange Mühsal gezeichneten Gesichter von Arbeitern ausgelöst haben muss, mit dem Bild von Menschen vor Hochregalen etwas gleichermaßen schwer Erträgliches entgegenzusetzen.

Das Gegenbild zu der Gemeinschaft gebannt lauschender Menschen, die Mimmo Jodice auf einer Festa dell'Unitá mit seiner Kamera erfasste, besteht in der Innenaufnahme aus einer Halle (ebenfalls fotografiert von Michele Borzoni), in der Hunderte junger Kunsthistoriker, jeder an einem Pult, in einer Prüfung sitzen, in der sie sich für eine der wenigen Stellen qualifizieren wollen. Und man muss zu dieser Art von Fotografie auch die Bestandsaufnahmen von Landschaften rechnen, die durch eine Begegnung mit der Industrie in Wüsten oder Müllgebirge verwandelt wurden.

Am Ende trifft die Maschine auf Maschinen. Und ist erst dann ganz bei sich

Die dritte Art der Arbeits- oder Industriefotografie, erklärt Urs Stahel, bestehe gewissermaßen in Erkenntniskritik - dergestalt, dass der Fotograf nicht nur über seinen Gegenstand nachdenke, ihn in seinen Gründen, Eigenschaften und Wirkungsweisen analysiere, sondern sich gleichermaßen reflektiert zum Medium Fotografie verhalte. Der Kurator demonstriert diesen Zugang - und dessen Verhältnis zu den anderen beiden Arten der Fotografie von Arbeit und Industrie -, indem er eine Schau mit Werken Thomas Ruffs in den Mittelpunkt der Ausstellung stellt, nämlich in das Gebäude der Fondazione Mast selbst. Mit dem Titel "Machine & Energy" ist dieses Projekt überschrieben, in dem die Fotografie sich als eine Form der Gewinnung von Daten höchst unterschiedlicher Art darstellt - und zugleich darüber nachgedacht wird, wie die Kamera diese Daten verarbeitet oder sogar selbst hervorbringt.

In dieser Bewegung spiegelt sich eine Eigenart der Fotografie, die sie von vornherein besaß: Denn als sie in die Welt trat, in den Dreißigern und Vierzigern des 19. Jahrhunderts, tat sie es in Gestalt einer Maschine, als Mechanik und Chemie, die auf eine Umgebung traf, die selbst durch Maschinen gestaltet wurde. Am Ende scheint die Maschine also ganz bei sich selbst zu sein.

Biennale di fotografia dell'industria e del lavoro. Bologna, an verschiedenen Orten. Bis 19. November. Der Katalog ist auf Italienisch und Englisch verfasst und kostet 39 Euro. Thomas Ruff: Machine & Energy. Mast, Bologna. Bis 14. Januar. Das Katalogheft ist auf Italienisch und Englisch verfasst und ist kostenlos.

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Quelle:
SZ vom 08.11.2017
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