Foster Wallace: "Infinite Jest":Jäger des verlorenen Wortschatzes

Vor einer Woche erhängte sich der Schriftsteller David Foster Wallace. Ein Besuch bei Ulrich Blumenbach, der seit fünf Jahren sein Hauptwerk "Infinite Jest" übersetzt.

Alex Rühle

Es gibt da diese kurze Szene im Rundfunkgebäude, das die Form eines Gehirns hat: Joelle van Dyne, die sich als Moderatorin Madame Psychosis nennt, beginnt ihre Sendung, in der sie jede Nacht obskure Texte von trauriger Schönheit vorliest. Während sie diesmal die Kranken der Welt grüßt, steigt ihr Tontechniker aufs Dach des Gebäudes, um eine zu rauchen: "Sie sagt: ,Die Akromegaliker und Hyperatotiker. Die Enuretiker und spastischen Schiefhälse.' Der Technikstudent arretiert die Regler, füllt die linke Seite seines Arbeitsblatts aus, steigt mit seiner Büchertasche durch eine Treillage interneuraler Treppen mit semitischen Ideogrammen und dem Geruch nach Entwicklerflüssigkeit vorbei an Caféteria, Billardsalon, Modemplätzen und weiträumigen Büros der Studienberatung, angeordnet um die Lamina rostralis, den ganzen wenig genutzten, vielstufigen, neuromorphen Weg hinauf zur arterienroten, aufs Dach der Student Union führenden Brandschutztür und lässt Madame Psychosis, was das übliche Procedere ist, allein mit ihrer Show."

Foster Wallace: "Infinite Jest": Ulrich Blumenbach übersetzt seit fünf Jahren "Infinite Jest". Im Dezember soll der letzte Satz geschrieben werden.

Ulrich Blumenbach übersetzt seit fünf Jahren "Infinite Jest". Im Dezember soll der letzte Satz geschrieben werden.

(Foto: Foto: Rühle)

Boff. Das ist echter Wallace, schräge Orte, endlose Sätze und ein apokryphes Fachvokabular. Elf Zeilen werden das in der deutschen Übersetzung sein. Elf Zeilen in 1600 Seiten. Aber für die Passage aus David Foster Wallaces "Infinite Jest" ist mal wieder ein Nachmittag in der Basler Universitätsbibliothek draufgegangen. "Die ganzen Krankheiten, der Gang durchs Gehirn - da müssen Sie schon mehrere Stunden Pschyrembel und Anatomieatlas wälzen," sagt Ulrich Blumenbach und schenkt Tee nach.

Als Helge Malchow, der Verleger von Kiepenheuer und Witsch, "Infinite Jest", das 1079-seitige Hauptwerk von David Foster Wallace, bei verschiedenen "notorischen Dickbuchübersetzern" herumreichte, saßen die alle gerade an anderen Projekten. So wurde Blumenbach selbst notorisch, um seinen Namen entstand Geraune. Er ist jetzt der Mann, der seit Jahren einsam durch das Gehirn von David Foster Wallace und das Textgebäude von "Infinite Jest" läuft.

In seinem Arbeitstagebuch notierte Blumenbach vor mittlerweile vier Jahren: "weil ich mich so lang bei jedem von ihnen aufhalte, bewege ich mich durch wallaces sätze wie durch räume, betrachte die verschiedenen wände, stoße hinter der nächsten ecke auf unerwartetes. nur haben diese räume etwas von der radikalen fremdheit eines david lynch."

Jedem seine Madame Psychosis

Der Raum, in dem sich Blumenbach Tag für Tag durch die endlosen Wallacesätze bewegt, ist hell und aufgeräumt, ein großes Zimmer unterm Dach, ein hervorragend sortierter Bücherschrank, viel Joyce, viel Pynchon, vorm Fenster Basler Mittelstandsarchitektur, zwischen zwei Häusern strömt silbern der Rhein. Er erinnert sich noch lebhaft daran, wie geplättet und euphorisch er nach dem ersten Lesen von "Infinite Jest" war. Euphorisch, weil er dieses große Buch, als Arbeit vor sich hatte, geplättet wegen der enormen Sinndichte, des Vokabulars, der vielen wild mäandernden Nebenarme und Lebenswelten, aus denen Wallace das abseitigste Vokabular in sein Buch zog.

Als Blumenbach im November 2003 bei Kiepenheuer unterschrieb, dachte er noch, das sei in vier Jahren zu machen und er könne nebenher andere Autoren weiterbetreuen. "Völlig naiv war das", Wallace zehrte innerhalb kurzer Zeit alles andere auf. Kiwi lässt sich die Übersetzung zwar 44000 Euro kosten - was heroisch ist, denn ein Bestseller wird "Infinite Jest" kaum werden -, aber leben kann man davon nicht fünf Jahre lang. Blumenbachs Frau arbeitet drei Tage die Woche an der Universität in Zürich, die beiden haben zwei Kinder, er muss nebenher abends und nachts Börsennachrichten übersetzen, für eine Bank, "wirklich scheußliche Texte, aber gut bezahlt." Und er hat zusammen mit Marcus Ingendaay zwei Erzählungsbände von Wallace übersetzt, ansonsten aber gab es fünf Jahre lang nur den "Unendlichen Spaß".

"Infinite Jest" spielt in naher Zukunft, in der sogar die Zeit kommerzialisiert wurde: die Jahre werden nicht mehr kalendarisch gezählt, sondern von Firmen gekauft, wir sind im Year of the Depend Adult Undergarment, das unserem Jahr 2009 entspricht und das Blumenbach mit "Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche" übersetzt hat. Es gibt verschiedene Handlungsstränge rund um die Familie Incadenza und um einen Film mit dem Titel "Infinite Jest", der angeblich so komisch ist, dass alle, die ihn sehen, sich zu Tode lachen, um Terrorpläne einer Gruppe von Quebec-Separatisten, um Tennis, Drogenabhängigkeit, Depression und um das mediale Rauschen, in dem wir alle leben, dass wir durchtränkt sind vom Werbesprech, Fernsehmüll und Moderatorengelaber, so dass in unseren Köpfen immer schon fremde Texte laufen. Jedem seine Madame Psychosis.

Lesen Sie auf Seite Zwei, warum es nie zu einem persönlichen Treffen mit Foster Wallace kam.

Jäger des verlorenen Wortschatzes

Das wirklich Große an dem Buch kristallisiert sich aber in einem Satz, den Wallace seinem Helden Hal Incandenza in den Mund legt, nämlich "dass das, was sich als hippe zynische Transzendenz des Gefühls gibt - , in Wahrheit Furcht vor dem echten Menschsein ist".

"Infinite Jest" war mit den Mitteln des postmodernen Erzählens ein Generalangriff auf die läppische postmoderne Ironie, den hochglanzverspiegelten Nihilismus, Wallace ging es tatsächlich ums "echte Menschsein". Er wollte die total medialisierte Welt abbilden, ohne aber dünnsuppige Popaffirmation zu servieren. Jetzt ist er tot, er hat sich erhängt am vergangenen Freitag.

Als am Wochenende die Nachricht kam, riefen verschiedene Anglisten und Kollegen bei Blumenbach an, um zu kondolieren. Blumenbach blockte immer ab, er habe Wallace ja gar nicht gekannt. Helge Malchow hatte zu Beginn mehrfach versucht, einen Kontakt herzustellen, ergebnislos. Und da es das Gerücht gab, dass Wallace sich seiner spanischen Übersetzerin gegenüber arrogant benommen hätte, hat es Blumenbach dann auch nicht selbst noch einmal versucht. Weshalb er His Master's Voice nie selbst gehört hat.

Medizin, Mathe, Mensch-Ärgere-Dich-Nicht

So mussten eben andere helfen. Blumenbach druckt im Verlauf des Nachmittags immer wieder Texte aus, als Druckerpapier recycelt er eine alte Version der Übersetzung, die Seiten sind gesprenkelt mit handschriftlichem Verbesserungen in einer rundlichen Kulischrift: "Meine Mutter war Englischlehrerin, mein Vater Arzt, die beiden sind meine ersten Lektoren." Und dann ist da noch der befreundete Mathematiklehrer, der immer ranmuss, wenn Wallace sein exorbitantes mathematisches Wissen auspackt und über die Schönheit der Infinitesimalrechnung oder die zykloide Bewegung einer abgebrochenen Türklinke auf dem Boden schreibt.

Zyklowienochmal? Blumenbach holt aus dem Kinderzimmer eine Spielekiste, nimmt ein blaues Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Männchen heraus, malt auf dessen Unterseite einen Punkt, legt die Figur hin und lässt sie um sich selbst drehen. "Sehen Sie? Zykloid, weil sich's dreht. Und im Raum, weil sich die ganze Figur um sich selber dreht." Wenn man dieses winzige Männchen zwischen all den Büchern so zykloidisch vor sich hin kreiseln sieht, kann man verstehen, dass es fünf Jahre dauerte.

Mensch ärgere Dich nicht. Übersetzen ist selbst eine Art zykloide Bewegung, immer neu den Text durchgehen, vier bis sechs Arbeitsgänge insgesamt, immer neu abbiegen in andere Wissensstollen und Sprachspiele. Für die Tennispassagen hat Blumenbach tagelang Spiele von Roger Federer angeschaut, mit Notizblock und Stift in der Hand, aber während die meisten anderen Zuschauer die Kommentare nur wahrnahmen wie die Bandenwerbung, als diffuse Hintergrundstrahlung, war es bei Blumenbach umgekehrt, da bewegten sich zwei kleine Spielfiguren auf dem Rasen herum, während er gierig den Kommentaren der Sportreporter lauschte.

Lesen Sie auf Seite Drei, warum Blumenbach gerne einmal den Duden lesen würde.

Jäger des verlorenen Wortschatzes

Nun darf man sich Ulrich Blumenbach nicht als Nerd vorstellen. Er ist ein schöner Mann mit kräftigen Zügen und so ausdrucksstarker Mimik, dass es fast unmöglich ist, ihn zu fotografieren, immer friert man sein Gesicht in Arbeit ein. Er ist von geradezu eruptiver Eloquenz, formt beim Sprechen mit seinen Händen die luziden Sätze zu kleinen Bällchen und hat eine dermaßen raumgreifende Körperspannung, dass man noch heute die zwanzig Jahre Karate zu merken glaubt, von denen er einmal spricht. Zusammen mit Fritz Senn leitet er das Zürcher Übersetzertreffen, lehrt Literarisches Übersetzen an der Universität Düsseldorf und sitzt im Vorstand des Deutschen Übersetzerfonds. Klingt nach flamboyantem Leben. Und doch glichen die vergangenen Jahre eher linguistischen Exerzitien.

Einmal den Duden lesen

Zum Beispiel die Tonlagen. Wallace ist ein polyphones Genie, er bildet in "Infinite Jest" die Gedanken seiner Protagonisten mit all ihren Assoziationen und Erinnerungsfetzen ab, das wilde neuronale Feuerwerk im Dunkel unserer Köpfe. So hat jede Figur ihren eigenen Tonfall, ihr eigenes Vokabular. Afroamerikanische Schimpfkaskaden, Stümmel-Irisch, spitzmündige Harvard-Uppest-Class-Dialoge, breiter Westküstenslang - wie überträgt man all das ins Deutsche?

Hal Incandenza etwa, der autobiographisch eingefärbte Held des Romans, Junggenie, Tennisbegabung und Wörterbuchfetischist, weshalb dauernd die obskursten Begriffe durch seinen stream of consciousness treiben, fremd und einmalig wie Findlinge aus fernen Gebirgen. Einmal wird ein Mann als ascapartic beschrieben. Blumenbach durchforstete alle ihm bekannten Wörterbücher, den großen Muret-Sanders von 1962, das Webster's Unabridged Dictionary - nichts. Zufällig stieß er dann in einem Antiquariat auf eine Ausgabe des Muret-Sanders von 1906. Da stand es: "Ascapart: in alten Romanzen ein gewaltiger Riese, den Bevis of Hampton besiegte."

Wie Hal hat David Foster Wallace selbst in jungen Jahren das Oxford English Dictionary durchgelesen. Blumenbach sind solche Obsessionen nicht fremd, er sagt, wenn er Zeit hätte, würde er gerne mal den Duden lesen, "zumal das im Deutschen ja nur 4400 Seiten sind, das OED hat 22000." Der Wunsch ist mit der Übersetzung von "Infinite Jest" eher stärker geworden. Ja, Blumenbach dürstet geradezu danach, aufzutanken, Pause zu machen, die eigenen Silos zu füllen.

Ein privater "Krieg der Sterne"

Auf einer Ablage wachsen Stapel von Zeitschriften, Spex, Schreibheft und andere Abos, seit vier Jahren ungelesen in die Höhe, "ich komme zu nichts. Mein aktiver Wortschatz schrumpft, manchmal habe ich diese Szene aus "Krieg der Sterne" vor Augen, in der Han Solo, Luke Skywalker und Prinzessin Leia im Müllschlucker des Todessterns gefangen sind und die Wände kommen langsam aber unaufhaltsam näher, der Raum um sie wird kleiner und kleiner." Meine Güte, was für ein Bild, das Buch als Todesstern, in dessen Tiefen er, ameisenklein, zerquetscht wird.

Dabei spricht Blumenbach voller Liebe von diesem Buch. Und er hat Angst davor, dass es post mortem uminterpretiert wird. Wenn "Unendlicher Spaß" im Herbst kommenden Jahres erscheint, wird der Körper des erhängten Wallace wahrscheinlich düsterschwer über allen Rezensionen hängen - dabei wird das Buch von 1996 durchstrahlt von dem erleichterten Wissen, einem frühen Drogentod entronnen zu sein.

"Ich arbeite sehr langsam", sagte David Foster Wallace in einem Interview, "Zeile für Zeile, und am Ende will ich, dass es sich eher so anhört, wie jemand denkt, und nicht so sehr, wie jemand spricht. Das macht es manchmal schwer zu lesen. Und noch schwerer zu übersetzen." Blumenbach sagt, das wirklich Schwere an einigen Wallacepassagen sei etwas Anderes: die Mimesis ans Hässliche, der Versuch, die beschriebenen Verhältnisse, Sprachstile, Charaktere in all ihrer Stumpfheit, Redundanz oder zerstörerischen Inwärtswendung abzubilden, so wie seine endlos langen Sätze, die dazu führen, dass es einem, wie Blumenbach es formuliert, "beim Lesen ergeht wie Musils Törless über der ,Kritik der reinen Vernunft': ,Wenn er gewissenhaft mit den Augen den Sätzen folgte, war ihm, als drehe eine alte, knöcherne Hand ihm das Gehirn in Schraubenwindungen aus dem Kopfe.'"

Das Ende naht

Über Joelles' alias Madame Psychosis' Moderationstechnik heißt es in der eingangs zitierten Passage: "Ihre Monologe wirken assoziierend und komplex strukturiert, Alpträumen nicht unähnlich." In seinem Übersetzungstagebuch notierte Blumenbach mal folgenden Traum: "übersetzte vorige woche joelles vorbereitungen zum goldenen schuss in molly notkins badezimmer. träumte letzte nacht von unsagbar schönen frauen, die cracksuppe aßen." Ansonsten aber wirkt Wallaces Text nur selten in Blumenbach nach.

Es gibt Übersetzer, die geradezu somatisch auf Autoren und deren Texte reagieren. Blumenbach sagt, ihn belaste die Arbeit nicht, Wallace baue ja selbst immer Distanzierungen in den Text ein. Beschreibt er die Pfählung eines Mannes, wird minutiös geschildert, welche Darmhäute da zerfetzt werden, "da ist ja sofort wieder der Handwerker in mir gefordert, der entlegene medizinische Handbücher durchforsten muss. - Wobei ich wirklich froh bin, dass ich die Erzählung ,Inkarnationen verbrannter Kinder' nicht übersetzen musste, ich hab hier viele Bücher stehen, aber diese sieben Seiten, in denen das Kleinkind an dem kochenden Wasser in seiner Windel stirbt, sind das Grausamste, was ich kenne in der Literatur, das hätte ich nicht gekonnt, ich bin froh, dass das Ingendaay übernommen hat, der keine Kinder hat".

Am 9.5.2007 schrieb Ulrich Blumenbach in sein Arbeitstagebuch: "Als ich die Szene, in der Hal Incandenza in den Westoner Garten rauskommt, das erste Mal übersetzt habe (S. 10), war Elena vier Jahre alt, also sah ich sie im Flauschpyjama vor mir. Heute übersetze ich die Szene aus Orins Perspektive (S. 1041) und Raphael ist vier." Mittlerweile ist Blumenbachs Tochter sogar zehn, und so ist es doch Zeit, dass das Buch mal an ein Ende kommt. Trotz zykloider Bewegungen, trotz ganzer Nachmittage in der Universitätsbibliothek, trotz 1600 Seiten - selbst ein "unendlicher Spaß" hat ein Ende, im Dezember, nach 31 Monaten reiner Arbeitszeit, wird Blumenbach wohl das letzte Wort übersetzen. Seine Frau und er haben ein wenig Angst vor dem Abschied und dem horror vacui. "Ich will eine lange, lange Pause machen, aber meine Frau sagt schon, dass ich das eh nicht durchhalte."

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