Design:Der Baum, das Lebewesen

Design: Gerade noch lebendig gewesen: gefällte Baumstämme in einem Sägewerk im norditalienischen Val di Fiemme.

Gerade noch lebendig gewesen: gefällte Baumstämme in einem Sägewerk im norditalienischen Val di Fiemme.

(Foto: Museum für Gestaltung Zürich)

Mit "Cambio" liefert das Designduo Formafantasma eine aufwühlende Forschungsarbeit zu Holz und stellt die Frage: Wie sehr ist unsere Existenz mit der des Waldes verknüpft?

Von Isabel Pfaff

Wussten Sie, dass das Buch, das Sie gerade lesen, höchstwahrscheinlich aus Eukalyptusholz besteht? Dass die gemeine Fichte über ähnliche Klangqualitäten verfügt wie das seltene Rosenholz? Oder dass bis zu 30 Prozent der weltweit gehandelten Hölzer illegal geschlagen wurden? Nein? Dann gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute: In Zürich kann man sich in einer grandiosen Ausstellung in wenigen Stunden alles Wichtige über Bäume, Wälder und Holz aneignen. Die schlechte (die vielleicht gar nicht so schlecht ist): Das kann nur der Anfang sein. Denn jede der eingangs gestellten Fragen öffnet ein weiteres gigantisches Kapitel in der Beziehungsgeschichte Mensch-Baum. Bäume, das ist der verblüffende Kernsatz der Schau namens "Cambio", prägen die menschliche Existenz auf diesem Planeten wie wenig andere Lebewesen - zunächst als buchstäblicher Lebensraum, später als Brenn- und Baustoff, inzwischen auch als klimaschützende CO₂-Speicher.

An dieser Stelle eine nicht unwichtige Information: "Cambio" findet nicht in einem Naturkundemuseum statt, sondern im Zürcher Museum für Gestaltung. Und die Urheber sind keine Biologinnen oder Wirtschaftshistoriker, sondern das Designerduo Simone Farresin und Andrea Trimarchi, zusammen: Studio Formafantasma. Die beiden 1980 und 1983 geborenen Italiener sind berühmt dafür, ganzheitlich über Design nachzudenken. Bei ihnen geht es neben der Form immer auch um Materialien, Rohstoffherkunft, Produktionsbedingungen, Lebensdauer.

Design: Denken gerne groß: die beiden italienischen Designer Andrea Trimarchi (links) und Simone Farresin.

Denken gerne groß: die beiden italienischen Designer Andrea Trimarchi (links) und Simone Farresin.

(Foto: Renee de Groot)

Formafantasma nennt sich ein "forschungsbasiertes Designstudio", und die Ausstellung "Cambio", initiiert und kuratiert von der Londoner Serpentine Gallery, gehört in dieser Hinsicht wohl zu ihren extremsten Arbeiten. Nur sehr wenige Objekte in dem hohen Raum auf dem Zürcher Toni-Areal haben die beiden preisgekrönten Designer selbst entworfen. Stattdessen dominiert der Rohstoff Holz in all den verschiedenen Stadien und Formen, die der Stoff vom Baum bis zum fertigen Produkt durchläuft. Das trifft einen Nerv, nicht zuletzt, weil Holz in der Coronakrise so rar und teuer geworden ist wie lange nicht.

Selbst ein Malerpinsel aus dem Baumarkt kann aus illegal geschlagenem Holz sein

Ein Lärchenstamm, grob abgesägt, weist in den Ausstellungssaal hinein. Daneben ein Turm von Schnittholz, zum Trocknen aufgestapelt wie in einer Sägerei. Die Installation namens "51 Jahre" versammelt Einweg-Holzprodukte - Paletten, Papier, Umzugskartons - , deren CO₂-Ausstoß im Wegwerffall so hoch ist, dass eine mitteleuropäische Kiefer 51 Jahre braucht, um die Emissionen wieder aufzunehmen. Dann: Tischtennisschläger, Besen, Pinsel, Flöte, Gitarre, Hammer, Zollstock - Produkte aus oder mit Holz, neben einander an die Wand genagelt. Sie zeigen die globale Verflechtung der Holzindustrie. Und auch, dass selbst ein Malerpinsel aus dem Baumarkt einen Griff aus illegal geschlagenem, eigentlich geschütztem Holz haben kann.

So etwas sagt und schreibt sich leicht, dabei hat Studio Formafantasma die Produkte aufwendig von den Holzforschern des Hamburger Thünen Institut forensisch untersuchen lassen, um Holzart und Herkunft festzustellen. Überhaupt: An Selbstüberschätzung leiden die beiden Designer nicht. Farresin und Trimarchi haben für "Cambio" mit mehr als einem Dutzend Forschungsinstituten, Museen, Sammlungen und einzelnen Expertinnen und Experten zusammengearbeitet. Ihre Installationen sind nicht einfach nur Hinweise auf ein paar Missstände. Sie gehen in die Tiefe, man braucht Zeit und wünscht sich oft einen Notizblock. Studio Formafantasma selbst spricht lieber von einer "ongoing Investigation" statt von einer Ausstellung, einer andauernden Untersuchung der Holzindustrie.

Design: Was wäre, wenn Eichen sprechen könnten? Der Ausstellungsfilm "Querkus" zeigt einen Eichenwald in Virginia, aufgenommen mit Laserscanning.

Was wäre, wenn Eichen sprechen könnten? Der Ausstellungsfilm "Querkus" zeigt einen Eichenwald in Virginia, aufgenommen mit Laserscanning.

(Foto: Museum für Gestaltung Zürich)

Der Name Cambio verweist dabei einerseits auf die dünne Gewebeschicht von Bäumen, die nach innen Holz und nach außen Rinde bildet, also eine Art Übergang darstellt zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Andererseits ist der Name Programm. Studio Formafantasma unterstreicht damit seinen Wunsch nach Wandel, nach "einer Veränderung der Art und Weise, wie man heutzutage an Design und Produktion herangeht", so Simone Farresin.

Der Nachhaltigkeitswunsch ist nicht neu in den Arbeiten des Duos, auch für das Projekt "Ore Streams" (2017) erforschte Formafantasma einen ganzen Wirtschaftszweig - elektronische Geräte und ihr Recycling - und nahm das als Ausgangspunkt für eine elegante Produktreihe aus Elektroschrott. Andere Bemühungen der beiden Designer um einen möglichst kleinen ökologischen Fußabdruck zeigen sich erst beim zweiten Hinschauen. Obwohl "Cambio" eigentlich aus London kommt, haben nicht alle Objekte den weiten Weg von dort hinter sich. Der Baumstamm zum Beispiel hätte wahrscheinlich einen ganzen Laster gebraucht, um nach Zürich zu kommen. Er kommt deshalb nicht aus Großbritannien, sondern aus einer nahe Zürich gelegenen Sägerei. Auch auf Stellwände hat Formafantasma weitgehend verzichtet; die werden in den meisten Museen nämlich nur einmal verwendet und dann weggeschmissen.

Die Designer verbinden auf geschickte Weise Informationen mit gestalterischem Können

Bei aller Informationsdichte, politischer Aufladung und fast pädagogischem Impetus verlieren Farresin und Trimarchi nie die Schönheit und Leichtigkeit aus den Augen. Die wenigen Objekte, die sie für "Cambio" entworfen haben, sind schlanke, puristische Regale und Tische aus Fichte. Das Holz stammt aus dem norditalienischen Val di Fiemme, einer Region, die berühmt ist für Musikinstrumentenbau. Die lackierten Formafantasma-Möbel erinnern nicht zufällig an glatte Klaviertasten oder Gitarrenfronten. Eine bezaubernde Videoinstallation zeigt eine Art Daumenkino; Wälder, einzelne Birken, Baumstämme, alles in wenigen, filigranen Strichen. Und wie fast immer bei Formafantasma gibt es noch eine zweite Ebene: Die Bilder sind mit Kohle auf Papier gezeichnet, sie zeigen also nicht nur Bäume, sondern bestehen auch aus ihnen. Ähnlich doppelbödig verhält es sich bei den übrigen "Cambio"-Videos: Die Filme verbinden auf geschickte Weise Informationen oder Denkanstöße mit gestalterischem Können.

Design: Aus Klimaschutzgründen sind nicht alle Ausstellungsobjekte aus London nach Zürich gereist. Dafür wurden lokale Ergänzungen gefunden wie diese Holzproben aus einer Sammlung der ETH Zürich.

Aus Klimaschutzgründen sind nicht alle Ausstellungsobjekte aus London nach Zürich gereist. Dafür wurden lokale Ergänzungen gefunden wie diese Holzproben aus einer Sammlung der ETH Zürich.

(Foto: Umberto Romito & Ivan Åuta/Museum für Gestaltung Zürich)

Studio Formafantasma belässt es nicht bei der visuellen Ebene. Wer den Ausstellungssaal in Zürich verlässt, nimmt ein bisschen von dem Duft mit, der den Raum prägt. Es riecht intensiv nach feuchtem Waldboden und frisch geschlagenem Holz - eine Kreation der norwegischen Geruchsforscherin und Künstlerin Sissel Tolaas. Man streicht beim Rausgehen auch unwillkürlich über die Rinde des enormen Lärchenstamms, in den Fingern eine neu erworbene Zärtlichkeit gegenüber dem Holz, das vor Kurzem noch ein Lebewesen war.

Formafantasma: Cambio. Baum, Holz, Mensch, Museum für Gestaltung Zürich. Bis 8. Mai.

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