Süddeutsche Zeitung

Fünf Favoriten der Woche:Aus den Fluten

Wein kaufen für einen guten Zweck, Skulpturen für Skater und Traumhäuser für alle. Die Favoriten der Woche.

Flutwein.de

"Unser schlimmster Jahrgang!" Mit dem Slogan (und solch einem schmutzigen Werbespot!) hat wohl noch niemand seinen Wein verkaufen wollen. Und doch ist es leider so: Die Weine, die man unter dem Label "Flutwein" erwerben kann (https://www.flutwein.de), sind fast ausnahmslos ruiniert. Auf jeden Fall sind es die Etiketten der Flaschen, in die sie abgefüllt wurden. Die Weine selber sind es vermutlich nicht. Alles egal. Denn die "Flutweine" stammen aus der Region Ahrweiler, dem größten zusammenhängenden Rotweinanbaugebiet Deutschlands. Und Flutwein ist, was davon übrig blieb: das Label für die letzten heilen Ahrwein-Flaschen. Die kann man dem gemeinnützigen Verein "Ahr" nun abkaufen. Das Versprechen: Jede Weinflasche ist ein Unikat - und jeweils originalverschlammt. Das Geld kommt dem Wiederaufbau der zerstörten Kulturregion zugute. Bernd Graff

Skatertaugliche Skulpturen

Zu den Gemeinheiten, um unliebsame Gäste aus dem öffentlichen Raum zu vertreiben, gehören auch Blumenkübel. Oft stellen Anwohner, genervt vom Rumgekurve etwa der Skater-Szene, die Plätze zu. So soll verhindert werden, dass Brunnen oder Stufen als eher viertel- denn halblegale Rails missbraucht werden. Man kann die Anwohner gut verstehen. Aber auch die Skater wollen ihren mittlerweile sogar olympischen Sport, der zugleich eine urbane Erfindung ist, nicht nur in den amtlichen Reservaten ausüben. Ist der öffentliche Raum denn nicht für alle da? Das fragt sich die Londoner Gruppe Assemble, bestehend aus Architekten, Soziologen und Designern. Für das soeben eröffnete Folkestone-Festival in Kent haben sie robuste Skulpturen entworfen, die stadtraumbildend und trotzdem skaterfreundlich sind. Gerhard Matzig

Traumhaus von MVRDV

Zugegeben, es ist etwas dünnes Eis, diese unterschiedlichen Haustypen als Traumhäuser vorzustellen und sie mit der Rubrik Favorit zu adeln. Schließlich haben nicht nur die Grünen dem Einfamilienhaus den Kampf angesagt. Und das völlig zurecht. Inmitten der Klimakatastrophe und der scheinbar von absolut nichts aufzuhaltenden Asphaltierung kompletter Landstriche wirkt das Einfamilienhaus, zumindest in Innenstadtnähe, wie aus der Zeit gefallen. Weil es zu viel Platz, Ressourcen und Energie braucht. Einerseits.

Andererseits lässt sich der Wunsch vieler Menschen, sich etwas Eigenes mit Haustür zu schaffen, aber auch nicht einfach negieren. Und hier kommt das Rotterdamer Architekturbüros MVRDV ins Spiel. Denn ihre Traumhäuser sehen so ganz anders aus als die schlüsselfertigen weißen Kisten, die ihren Kunden als vermeintliche Häuser ihrer Träume angedreht werden, tatsächlich aber nur landauf landab jedes Neubauviertel narkotisieren. "Wieso stecken wir Menschen in solche Uniformen, wie wir vor 100 Jahren Kinder in Uniformen gesteckt haben?" sagt Winy Maas, einer der Gründer von MVRDV. Er sieht seine Entwürfe für Traumhaus, einen Projektentwickler aus Wiesbaden, der gewöhnlich eher in Richtung weiße Kisten denkt, als Beitrag gegen die architektonische Ödnis in Deutschland, ja sogar als "Kampf gegen die Zersiedlung". Warum? Weil MVRDV auch ein Mehrfamilienhaus entworfen hat. Vor allem aber, weil die Palette, aus der die Kunden wählen können, alles ist nur nicht uniform. Das fängt beim Material für die Fassaden an. Von Holz über Stein bis hin zu natürlich begrünt ist vieles möglich. Genauso wie unterschiedliche Hausgrößen, Dachformen und Erdgeschosse zur Auswahl stehen. Ein Typ sieht sogar aus wie ein Vogelhaus, in die Höhe gestemmt von einem gewaltigen Ständer. Es gibt freie Erdgeschosse und es gibt Farben. Farben! Im Land von Goethes Farbenlehre ja eine Rarität an Fassaden, wenn man mal von Hellgelb und Pastellrosa absieht. In neun Monaten soll dort "ein buntes Viertel" aus 61 Traumhäusern entstanden sein. Für Maas eine Art Expo Dorf, das zeigen soll, was möglich wäre, wenn man mehr Freiheiten lässt. Und für so manchen Häuslebauer vielleicht die Chance, die Uniform abzustreifen. Laura Weißmüller

Liebesgeflüster

Überraschend stehen sie sich am Rand einer Tagung gegenüber: der Mann und die Frau, die einst ein Liebespaar waren - einander verfallene Körper, ineinander verkeilte Seelen. Bis der Mann eine Entscheidung traf, gegen die Frau. Inzwischen ist er verheiratet, hat ein Kind. Und kann doch nichts ausrichten gegen die Wellen der Sehnsucht, die plötzlich über ihm zusammenschlagen. Über ihm, und über ihr auch. Sie absolvieren die Konferenz, reisen gemeinsam eine Stadt weiter und nehmen sich dort ein Zimmer. Es ist ein Blitzschlag, der Paul Celan und Ingeborg Bachmann im Oktober 1957 elektrisiert und neuerlich füreinander entflammt. Viele Jahre bleibt ihre Beziehung ein gut gehütetes Geheimnis. Kaum jemand ahnt, wen der Dichter mit "Corona" besingt: "Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten: wir sehen uns an, wir sagen uns Dunkles".

Der Choreograf Marco Goecke, seit vergangenem Jahr Ballettdirektor in Hannover, hat diese Zeile in ein halbstündiges Tanzgewitter verwandelt. "Wir sagen uns Dunkles", bis 13. August auf www.staatstheater-hannover.de zu sehen, zeigt Paare, die einander verführerisch umzüngeln, zitternd betasten, giermündig küssen und doch nie zueinanderkommen. Der trennende Abgrund namens Einsamkeit bleibt unüberwindlich, lässt sich allenfalls mit den Augen ausloten: er auf der einen, sie auf der anderen Seite. Bis ein Dritter ins Spiel kommt. Im wahren Leben hieß er Max Frisch und war Schriftsteller, wie die beiden anderen auch.

"Wir sagen uns Dunkles" ist das Finale einer Saison, in der Goecke sich selbst übertroffen hat. Wo anderen pandemiebedingt die Fantasie ausging, legte er in Den Haag, Hannover, Stuttgart ein halbes Dutzend Kreationen hin - scharfkantig und kristallin im Duktus, vielschichtig in der Diktion. Goeckes Arbeiten sind gründlich bedacht und entstehen dennoch rein intuitiv: im Ballettsaal, den er sich selbst per Sonnenbrille verdunkelt. So leuchten ihm Körper und Konturen der Tänzer aus einem Halbdämmer entgegen, mit dem er später den ganzen Bühnenraum auskleidet.

In diesem Schattenland spielt nun auch "Wir sagen uns Dunkles". Kommende Spielzeit soll das Liebesgeflüster live in Hannovers Staatsoper laufen. Der digitale Vorgriff ist freilich kein Appetizer, sondern ein Augenschmaus für die Hundstage. Dorion Weickmann

Vince Staples

Die zuletzt wegweisende Rap-Variante Trap hat den rhythmisierten Sprechgesang ja weit jenseits der Grenzen des Sinns geführt. Anders gesagt: Trap erbrachte des Beweis, dass man im Rap erfolgreich gleichzeitig Lallen und Nuscheln kann. In den gloriosen Momenten verstand man kein Wort, taumelte aber bereitwillig in eine Zwischenwelt, in der man sich gleichzeitig arg deprimiert und tief entspannt fühlte. Bitte oszillieren Sie. Vince Staples, dessen neues, unbetiteltes Album soeben erschienen ist und von dem seit ein paar Tagen ein grandioses Tiny Desk Concert auf Youtube steht, macht keinen Trap, aber die irritierend düster-dialektischen Schwingungen des Trap hallen heftig nach in seinem somnambulen Emo-Rap. Nur eben wieder diesseits des Sinns bis hin zu Zeilen wie diesen: "Louis Bag, Gucci Bag / You got Baggage". Wurde je schöner gesagt, wie schwer beladen wir auf den Abgrund zusteuern, den wir uns selbst ausgehoben haben? Jens-Christian Rabe

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