Historische Sammlung:Zappelndes Papier im Baum

FEINDFLUGBLÄTTER
DES ZWEITEN WELTKRIEGS

Flugblatt der Alliierten im Zweiten Weltkrieg, um die deutsche Bevölkerung aufzurütteln.

(Foto: Einblattsammlung der Staatsbibli)

Wie der Zweite Weltkrieg als Informationskrieg geführt wurde und die Flakhelfergeneration mit Flugblättern das Lesen lernte.

Von Willi Winkler

Vorne lockt der Fluss den Kulturtouristen, bella Italia glänzt in seiner ganzen Pracht, dazu eine Landestochter, wie sie süße Trauben kredenzt. "Der Po wartet auf dich", besagt die Inschrift auf Englisch und Urdu, doch auf der Rückseite entfärbt sich die Postkarte zum finsteren Schwarz-Weiß, da wartet der Tod auf den, der sich dem Fluss zu nahen wagt.

Auf einem anderen Blatt fährt ein Hackebeil aus einer Nazi-Uniform, die Schneide ist nicht schartig, sondern ein aufgerissener Mund, der Schnurrbart drüber und ganz oben die Tolle über den bösen Augen - eine Hitler-Karikatur, aber kein Witz, sondern jederzeit bereit, jedem den Kopf abzuschlagen.

Noch ein Beispiel? Hier wird das Leben im Krieg dem im Frieden gegenübergestellt: Auf dem einen Bild küsst ein Mann eine appetitlich dekolletierte Frau, auf dem anderen humpelt ein beinamputierter Soldat. Der Text ist so schlicht, dass es wirkungsvoller gar nicht geht. Links: "Gentlemen bevorzugen Blondinen". Rechts: "aber Blondinen wollen keine Krüppel".

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Auch die Deutschen versuchten, amerikanische Soldaten mit Flugblättern zu beeindrucken.

(Foto: Einblattsammlung der Staatsbibli)

Dieses Kontrastprogramm war für die amerikanischen Soldaten gedacht, die ab 1943 von Süden her Italien von den Deutschen zurückeroberten. Sie sollten sich gut überlegen, ob sie Leben und Gesundheit im Kampf gegen Hitler opfern sollten. Und nach Italien, verkündete ein weiteres Blatt, das in bestem Englisch formuliert und mit Temperatur- und Höhenangaben gespickt war, erwarteten die Soldaten noch ganz andere Schwierigkeiten, die Alpen.

"Die Alpen sind die gefährlichsten Berge Europas. Jeder Berg ist eine Festung." Und nach dieser militärischen Drohung folgt ein sarkastischer Schluss: "Wer die Gelegenheit bekommt, sie zu besteigen, hat mehr vom Leben, aber wer sich von ihnen fernhält - lebt länger."

Der Text war, um ihn als deutsch auszuweisen, in Fraktur gesetzt. Ein Irrtum

Diese und 25000 weitere Flugblätter, Karten und Bilder sind in der Berliner Staatsbibliothek gesammelt. Sie tragen fast alle Gebrauchsspuren, sind beschrieben, eingerissen, vergilbt, verschmutzt.

Das ist keine hohe Literatur, schon weil die Texte und erst recht die Bilder mit ihrer Botschaft nicht lang herumdrucksen. "Erhalt Dir Deine Lebenskraft!", geht ein einprägsamer Reim, "Begib Dich in Gefangenschaft!"

Die gegnerischen Soldaten sollen zum Überlaufen bewogen, zumindest soll ihre Wehrkraft zersetzt werden. Die Russen wenden sich an die deutschen Soldaten, die Deutschen an die Soldaten der anrückenden Armeen aus Frankreich, England und den USA.

Einem deutschen Flugblatt, das in Deutschland nur wenigen bekannt war, verschaffte die Royal Air Force (RAF) die größte Aufmerksamkeit. Am 18. Februar 1943, gut zwei Wochen nach der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad, wurden Sophie Scholl und ihr Bruder Hans verhaftet, als sie im Lichthof der Münchner Universität ihr sechstes Flugblatt abwarfen.

"Erschüttert steht unser Volk vor dem Untergang der Männer von Stalingrad", hieß es da. "Dreihundertdreißigtausend deutsche Männer hat die geniale Strategie des Weltkriegsgefreiten sinn- und verantwortungslos in Tod und Verderben gehetzt. Führer, wir danken dir!"

Dieser Ton war beste Propaganda gegen Hitler, deshalb wurden die Autoren und Verbreiter auch sofort verurteilt und hingerichtet. Ein Exemplar des Flugblatts gelangte nach England, wo es zum "Manifest der Münchner Studenten" umgestaltet und Mittel der alliierten Propaganda wurde. Der Text selber war, um ihn als echt deutsch auszuweisen, in gotischer Fraktur gesetzt. In England wusste niemand, dass Hitler Anfang 1943 die "jüdische Schwabacher" zugunsten der Antiqua abgeschafft hatte.

Joseph Goebbels frohlockte im Tagebuch über die neue Schrift: "Und unsere Sprache kann wirklich Weltsprache werden." Außerdem hielt er fest: "Gestern: keine Einflüge ins Reich." Das mochte für den Propagandaminister eine Atempause sein, im Juli kehrte das letzte Flugblatt, beglaubigt durch den mittlerweile bekannt gewordenen Tod der Verfasser, nach Deutschland zurück.

RAF-Flugzeuge warfen es in Millionenauflage mit der Einleitung ab: "Wir werden den Krieg sowieso gewinnen. Aber wir sehen nicht ein, warum die Vernünftigen und Anständigen in Deutschland nicht zu Worte kommen sollen."

Der Dichter Peter Rühmkorf sammelte die Blätter liebevoll

Allein die RAF hat 6,5 Milliarden Flugblätter in 29 Sprachen hergestellt und bei ihren "Einflügen" zur Ergänzung des Bombardements abgeworfen. Peter Rühmkorf erzählt in seinen Erinnerungen, wie er zum Sammler wurde. "Nach jedem Fliegerangriff, gleich nach der Entwarnung, erwachte fieberhaft mein Jagdtrieb. Hörte ich von Bombenabwürfen und Flugzeugabstürzen in der näheren Nachbarschaft, wallfahrtete ich zu den Fundstellen und fahndete nach den neuesten Informationen.

Wo irgendwo ein zappelndes Papier in einem Baum hing, stieg ich ihm nach; wo etwas weiß oder bunt aus den Gräben hervorschimmerte, angelte ich es heraus; liebevoller wird sich kaum ein Papyrologe über unleserlich gewordene Nachrichten aus alten Zeiten gebeugt haben als ich über diese verdreckten, zerknitterten, oft unleserlich gewordenen Botschaften aus besseren Welten, und ich säuberte sie, plättete sie, rubrifizierte sie und lernte sie auswendig."

Die Feindflugblätter wurden auch von Amts wegen gesammelt. Im "Wehrmacht-Propaganda-Lagebericht für die Zeit vom 16.10.-31.10.1941" wird das Motiv mit dem Hackebeil der Moskauer Künstlergruppe Kukryniksy, die Hitler auch als Laus und als Affe darstellte, mit archivalischem Ernst als "Gorilla mit dem Gesicht des Führers" verzeichnet. Auch die Moskauer hatten ihr Material bearbeitet, ihre Bilder nämlich als Teil der deutschen Soldatenblätter für Feier und Freizeit ausgegeben.

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Die Vorderseite eines deutschen Flugblattes.

(Foto: Einblattsammlung der Staatsbibli)

Die Deutschen ließen sich selbstverständlich nicht lumpen. In einer weiteren Gegenüberstellung findet sich links oben das Logo der einstmals berühmten Zeitschrift Life und auf dem Titel, was Life nie hatte, eine nackte Frau. Das Pendant hat in der gleichen graphischen Aufteilung statt Life schlicht Death (für Tod) und statt der schönen Nackten einen ausgefransten Totenschädel unterm Helm.

Die Autoren arbeiteten so sorgfältig, dass in den verschiedenen Varianten jeweils der französische, der englische und der amerikanische Helm zum Einsatz kommt.

Der kunstgeschichtlich vorgebildete Betrachter wird sich an das Vanitas-Motiv der Barockzeit erinnert fühlen: vorne des Lebens ganze Pracht, hinten Alter, Fäulnis, Tod. Die Gruppe, die dieses und manch anderes farbenfrohe Motiv herstellte, hieß "Südstern". Sie operierte in Oberitalien, das sich 1944 noch fest in deutscher Hand befand. Zum "Südstern" gehörte ein richtiger Kunsthistoriker namens Henri Nannen, der mittlerweile bei der SS-Propagandakompanie Kurt Eggers diente.

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Vanitas-Motive als Kampfmittel.

(Foto: Einblattsammlung der Staatsbibli)

Beim "Südstern" wusste man nicht nur, dass Gentlemen Blondinen bevorzugen, es wurde auch gern mit antisemitischen Anspielungen nach dem Muster operiert: Du setzt hier Dein Leben aufs Spiel, während zu Hause in New York ein Jude Dein Mädchen begrapscht. Die Arbeit bei der Gruppe "Südstern" war sicherlich nicht die schlechteste Vorschule für den Stern, in dem Nannen den jüdischen Kollegen Hans Habe 1952 als "galizischen Immigranten" mit "jäh erblondeten Haaren" beschimpfen konnte, der über die "demagogische Begabung von Goebbels' Gnaden" verfüge.

Rühmkorf glaubte, dass er als dreizehnjähriger Schüler mit der Lektüre des Fallguts "zum zweitenmal das Lesen gelernt" habe. "Wo die Schule mich dumm ließ und das Leben mich unglücklich machte, wurden sie mein Fernlehrkursus, meine Politakademie, meine Kunsthochschule, mein Manna: Flugblätter!"

Er wird kaum gewusst haben, dass exilierte deutsche Schriftsteller wie Johannes R. Becher, Stefan Heym und Klaus Mann an manchen der alliierten Flugblätter mitgewirkt haben, aber mit dem Segen von oben begann er selber zu dichten: "Werft an die Motoren/Gebt Holzgas hinein/Der Krieg ist verloren/Für Hitler, das Schwein."

Feindflugblätter des Zweiten Weltkriegs. Herausgegeben von Tobias Roth und Moritz Rauchhaus. Verlag: Das kulturelle Gedächtnis. Berlin 2020. 288 Seiten, 28 Euro.

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